Gina Lückenkemper im Interview "Wieso mache ich den ganzen Kack noch?"
02.01.2020, 14:32 Uhr
Mit der Staffel erreicht Gina Lückenkemper bei der WM 2019 das Finale, die Saison sieht sie insgesamt aber kritisch und trainiert nun härter als je zuvor für die Olympischen Spiele in Tokio.
(Foto: imago images/Beautiful Sports)
Gina Lückenkemper, die beste deutsche Sprinterin, bereitet sich in Florida akribisch auf die Olympischen Spiele im August in Tokio vor. Im Interview mit ntv.de geht sie mit ihrer Saison 2019 ins Gericht, in der die von ihr erhofften Zeiten ausblieben. Außerdem spricht die 23 Jahre alte Leichtathletin über die Gründe für den Wechsel in die USA und die Doping-Gerüchte rund um ihren neuen Coach. Und Lückenkemper erklärt, warum das Training in den Staaten härter ist und was sie bis Tokio noch verbessern muss.
ntv.de: Frau Lückenkemper, Ihre schnellste Zeit 2019 waren 11,14 Sekunden, damit liegen Sie auf Platz 41 der Weltjahresbestenliste und liefen nur einmal in der Saison Olympia-Norm. War das Jahr eine Enttäuschung für Sie?
Gina Lückenkemper: Meine Saison 2019 war definitiv nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Das Wort Enttäuschung finde ich aber nicht passend, weil es keine komplett erfolglose Saison war. Immerhin stand ich in einem Diamond League Finale und im WM-Finale mit der Staffel. Für mich war dieses Jahr eine Saison zum Lernen. Ich bin nach wie vor eine junge Athletin und habe definitiv noch nicht ausgelernt. Die wirklich schnellen Zeiten, die ich mir dieses Jahr erhofft hatte, sind aber ausgeblieben.
Woran lag's?
Die ganze Saison 2018 mit der EM in Berlin hat mir eine Menge abverlangt. Gerade bei der EM wollte ich super performen. Das ist noch immer mein Highlight und ich denke gerne daran zurück, aber es hat mir auch viel Energie und Kraft genommen. Die EM 2018 kann also ein Faktor gewesen sein. Aber vieles hat dieses Jahr einfach nicht gepasst und am Ende bin ich auch nur ein Mensch. Das hat diese Saison wieder gezeigt.
Kurz vor der WM in Doha, nach dem Diamond League Meeting in Brüssel, bei dem Sie 11,45 Sekunden gelaufen sind, sprachen Sie von einem mentalen Loch.
Das mentale Loch hat meine Vorbereitung auf die WM nicht gestört. Im Training vor dem Start in Doha habe ich auch bessere Zeiten auf die Bahn gebracht. Bei der WM stand ich mir dann selbst ein bisschen im Weg. Aber: Mit der Staffel standen wir im Finale. Auch wenn es dort nicht so lief, wie wir es gerne gehabt hätten, so stand ich immerhin in einem WM-Finale. Und der fünfte Platz ist für diese durchwachsene Saison beachtlich. Meine Zeiten aus den Staffel-Starts waren brettstark.
Warum erreichten Sie das WM-Finale mit der Staffel und nicht im Einzel?
Es ist faszinierend: Wenn man sich meine Läufe bei der WM anschaut, sieht man im Einzel und in der Staffel zwei komplett unterschiedliche Menschen auf der Bahn. In der Staffel funktioniere ich einfach, da bin ich "on fire". Da kann ich mich von allem lossagen, was mich sonst belastet. Aber im Einzel hat das dieses Jahr leider gar nicht funktioniert. Da habe ich es einfach nicht gebacken bekommen und habe mir selber im Weg gestanden. Natürlich fragt man sich nach gewissen Rennen, wie zum Beispiel in Brüssel: Wieso mache ich den ganzen Kack eigentlich noch? Wofür? Warum? Das sind aber Fragen, die ich mir während meiner Karriere regelmäßig stelle. Am Ende habe ich immer wieder dieselbe Antwort darauf: Ich habe meine Ziele, weiß, wo ich hin möchte - und es ist meine Liebe. Meine Leidenschaft.
Ende 2019 sind Sie dann in die USA gewechselt, um dort in einer elitären Sprintgruppe zu trainieren. Brauchten Sie diese etwas schwierigere Saison, um diesen Schritt zu wagen?
Die Entscheidung, in die USA zu gehen, hat sich über die gesamte Saison gezogen. Im Verlauf der Saison habe ich das Angebot bekommen und mir war von Anfang an klar, dass das für mich eine Wahnsinnschance ist, die ich so in meinem Leben vielleicht nicht mehr bekomme. Ich habe dann direkt mit meinem Trainer Uli Kunst darüber gesprochen und er hat mich darin bestärkt, das wirklich anzugehen und auszuprobieren.
Sie trainieren nun mit dem amerikanischen Doppel-Sprintweltmeister Noah Lyles und Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo von den Bahamas: War es eine Auszeichnung, in diese Elite-Gruppe berufen zu werden?
Das Angebot fühlte sich wie eine Art Ritterschlag an. Ich stehe täglich mit Olympiasiegern und Weltmeistern auf der Bahn und kann mich jeden Tag davon überzeugen, dass auch diese Leute nur mit Wasser kochen. Wir sitzen alle im selben Boot, wollen alle möglichst erfolgreich sein in der Zeit, die uns im Spitzensport bleibt. Das hilft, wenn man hier Übungen machen muss, die einfach nur scheiße schwer sind und bei denen man denkt: Dabei fall ich auseinander (lacht). Ich bin also echt froh, dass ich diesen Schritt gegangen bin.
Stichwort auseinanderfallen: Es heißt, in den USA gehe man im Training über die Grenzen hinaus. Ist das noch gesund?
Leistungssport wird niemals zu hundert Prozent gesund sein für den Körper. Egal, welche Sportart man ausübt. Das Training in den USA ist definitiv anstrengender als in Deutschland. Es herrscht eine andere Intensität. Aber so viel Wert wie hier wurde noch nie auf Regeneration gelegt. In der Woche habe ich vier harte Trainingseinheiten, wo viel geballert wird. Aber die sind machbar, weil es dazwischen einen aktiven Regenerationstag gibt und das Wochenende frei ist. Da wird aber natürlich auch von uns erwartet, dass wir den Körper entsprechend nachbereiten. Aber wir sind Profis, das ist unser Job. Ein Fulltime-Job eben.
Schaffen Sie es bei diesem Programm überhaupt, den Kopf auszuschalten?
Ich schlafe viel. Schlaf ist hier so wichtig wie noch nie zuvor, denn dabei erholt sich der Körper am besten von den ganzen Strapazen. Sonntags hole ich mir einen Kaffee, setze mich in die Sonne mit einem Hörbuch auf den Ohren und löse Sudokus. Es ist ja auch ein netter Nebeneffekt des Trainings in Florida, im Dezember im T-Shirt in der Sonne sitzen zu können. Aber im Ernst: Sonst hatte ich jeden Winter mit viel Müdigkeit und Trägheit zu tun, mit einer Art Winterdepression. Einfach, weil man in Deutschland wenig Sonne sieht und wenig Tageslicht abbekommt. Hier fühle ich mich gut und bin müde nur vom Training.
Ihr neuer Coach, Lance Brauman, war in verschiedene Arten von Sportbetrug involviert, saß im Gefängnis und coachte Tyson Gay, bis dieser 2013 wegen Dopings gesperrt wurde. Brauman selbst wurde zwar nicht gesperrt, aber haben Sie keine Angst, dass diese Trainingsgruppe in einem schlechten Licht steht?
Nein, diese Angst habe ich nicht. Bei jedem Trainer, der Topathleten aus unterschiedlichen Ländern trainiert, kann so etwas passieren. Wer sich mit der Trainingsgruppe Pure Athletics auseinandersetzt und schaut, woher dieser Name kommt, der sieht, dass Coach Brauman die folgende Philosophie vertritt: Er will den puren, den reinen Athleten haben. Keinen, der Nahrungsergänzungsmittel oder sonst was nimmt. Das predigt er regelmäßig. Einmal pro Woche setzen wir uns vor dem Training zusammen und da werden solche Dinge thematisiert. Es geht viel um Werte, die unser Coach vermitteln will. Einer der wichtigsten Aspekte dabei ist eben diese Reinheit. Er vergleicht uns gerne mit teuren Sportwagen, in die man ja auch keinen Billigsprit tankt, weil das schlecht für den Motor ist. Brauman sagt, wir sollen uns vernünftig ernähren, dann geht das Ganze auch so.
Wie gehen Sie mit einer Situation um, wenn ein Trainer oder Teamarzt Ihnen etwas verabreichen will oder Sie mit etwas einschmieren will, das Sie nicht kennen oder einschätzen können?
Das ist mir noch nie passiert und wird auch nie passieren. Wenn ich auf Reisen bin und Kopfschmerzen habe, kommt es schon mal vor, dass mir jemand eine Kopfschmerztablette anbietet. Ich frage dann, ob die Verpackung noch vorhanden ist, damit ich im Internet bei Nada-Med (Anm. d. Red.: die Medikamenten-Datenbank der Nada, die es Sportlern und Betreuern ermöglicht, online Infos über die Dopingrelevanz von Medikamenten zu bekommen) schauen kann, ob das Medikament gecleart ist. Wenn diese Verpackung fehlt, dann sitze ich weiterhin mit Kopfschmerzen da. Ich bin selbst beim Zahnarzt vorsichtig. Da sollte ich mal eine leichte Betäubungsspritze bekommen und war mir dann so unsicher, was da drin ist, dass ich die höllisch schmerzhafte Behandlung ohne Betäubung über mich ergehen lassen musste (lacht). Ich sage also lieber einmal mehr nein und lasse mir garantiert nichts von fremden Leuten verabreichen.
Wie läuft so was zum Beispiel in der Trainingsgruppe unter Coach Brauman ab?

So wir hier bei der EM 2018 würde Gina Lückenkemper am liebsten auch bei den Olympischen Spielen in Tokio wieder jubeln.
(Foto: dpa)
Lance Brauman hat mit Dingen, die abseits der Bahn passieren, nichts zu tun. Aber wir haben hier eine Ernährungsberaterin an Bord und mit ihr müssen wir alles abklären, wenn wir doch etwas Zusätzliches zur Nahrung zu uns nehmen wollen: Seien es Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel oder was auch immer. Und wenn sie uns da etwas nicht freigibt, dürfen wir es auch nicht nehmen.
In diesem Jahr steht mit den Olympischen Spielen in Tokio das nächste Highlight an: Sind Sie bereit?
Die Vorfreude auf Tokio ist wahnsinnig groß. Ich habe erste Bilder aus dem neuen Leichtathletik-Stadion gesehen und da kribbelt es schon. Ich habe schon jetzt richtig Bock auf die Olympischen Spiele. Das sind meine ersten richtigen Profi-Spiele. 2016 war ich zwar auch dabei und habe das natürlich auch ernst genommen, aber meine Einstellung dem Profisport gegenüber war noch nicht so zielgerichtet, wie das jetzt ist.
Was müssen Sie verbessern, damit es in Tokio besser läuft als bei der WM in Doha?
Puh, noch so einiges. Ich habe mich in den USA in das Umfeld eines völlig fremden Trainers begeben, der mich aus einem komplett anderen Blickwinkel betrachtet, als das bei Uli Kunst über die Jahre der Fall war. Das tut mir gut. Man wird einfach über die Jahre betriebsblind, wenn man die Sachen immer gleich macht und immer gleich sieht. Da fallen einem Kleinigkeiten, die am Ende einen großen Unterschied machen können, gar nicht mehr auf. Das ist nicht böse gemeint, das passiert jedem. Hier bekomme ich Input von jemandem, der mich vorher nie hat trainieren sehen. Wir haben in diesen ersten Wochen, in denen es um die Grundfitness ging, schon sehr viel über technische Aspekte gesprochen und einige Dinge verändert. Manchmal erklärt Brauman die Übungen einfach auch anders, auch welches Körpergefühl ich erreichen soll, dann hilft das ebenfalls.
Apropos neues Umfeld: Der Weg über den großen Teich ohne Familie und Freunde kann ja auch trainingsunabhängig sehr schwer sein.
Das ist ein Schritt vollkommen heraus aus meiner Komfortzone. Ich bin es ja gewohnt, viel zu reisen und weg von zu Hause zu sein. Aber hier bin ich wirklich alleine, mein Team und der Kader sind ja nicht mehr da. Das ist schon schwierig. Auch wenn ich sehr nette Trainingskollegen habe, fühlte ich mich anfangs schon mal einsam. Ich telefoniere fast jeden Tag mit meiner Familie. Und ich komme ja auch immer wieder mal nach Deutschland, weil ich in den USA nur trainingslagerähnliche Blöcke absolviere. Den ersten hab ich geschafft, der zweite kommt im Januar und Februar und der dritte, wenn der DLV mit den Sprintern auf der Anlage hier ein Trainingslager macht. Der mutige Schritt raus aus der Komfortzone zeigt mir aber schon jetzt, zu was ich eigentlich fähig bin, was ich vorher gerade in Bezug auf das Training nie für möglich gehalten habe. Ich bin gespannt, wo diese Reise hingeht.
Mit Gina Lückenkemper sprach David Bedürftig
Quelle: ntv.de