Draxler soll's wohl richten Löw sucht den Links(d)ruck
11.06.2016, 07:35 Uhr
Der Plan von Bundestrainer Joachim Löw steht, doch dann verletzt sich Marco Reus - und die linke Außenbahn des DFB-Teams wird zur vermeintlichen Problemzone. Dabei mangelt es nicht an Alternativen.
Thomas Schneider ist ein eloquenter Mann. Daran besteht kein Zweifel. Freundlich ist er, ein Typ zum Plaudern. Und das tut er dann auch, also plaudern. So spricht der Co-Trainer zwei Tage vor dem ersten Auftritt der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft im deutschen Teamquartier in Évian über Gruppengegner Ukraine, über den Zustand von Mats Hummels, über Spielerfrauen, über Kapitän Bastian Schweinsteiger, über die Formel für eine erfolgreiche Mannschaft und so weiter und so weiter – dabei verrät er Folgendes: nix. Wobei das eigentlich nicht ganz richtig ist. Er sagt genau einen Satz, der dem netten Geplaudere ein bisschen Inhaltskraft verleiht. Thomas Schneider sagt: "Die Mannschaft steht." Und dann? Wieder Geplaudere.
Der 43-Jährige, der im Oktober 2014 die Nachfolge von Weltmeister-Co Hansi Flick übernommen hatte, ist längst beim DFB angekommen. In kürzester Zeit hat er den Nationalmannschafts-Habitus adaptiert und beherrscht das, was ein Verantwortlicher auf der höchsten internationalen Ebene eben können muss: die Kunst der erzählend-inhaltsleeren Rhetorik. Das klingt fürchterlich böse, ist aber in Wahrheit unentbehrliche Kernkompetenz der fortgeschrittenen Trainerarbeit. Schließlich gilt: Vage ist besser als konkret. Nicht zu früh die Karten offenlegen, dem Gegner Fragen aufgeben, bloß keine Antworten liefern. Und sollte sich ein Spitzel der ukrainischen Delegation im DFB-Camp befunden haben, so wird er mit folgender Botschaft zurückkehren: Aus freien Stücken wollte dieser Schneider nichts verraten.
Draxler plaudert's aus
Der Spitzel könnte aber auch diese Botschaft mitbringen: "Vergiss den Schneider, wir haben den Draxler." Der Wolfsburer Weltmeister hat nämlich in der Aufstellungsfrage vermeintlich ein kleines bisschen mehr verraten - vermutlich aber eher unabsichtlich. Zum Beispiel sagte der Julian da, dass es für ihn "eine große Ehre ist, an der Seite von Mesut Özil spielen zu dürfen." Und jetzt wird's ganz kurz richtig aufregend, denn wir filtern folgende Kernbotschaft aus dem Satzgefüge des Weltmeisters heraus: Spielen zu dürfen! Das klingt doch ganz nach, na? Startelfeinsatz! Das wäre, Aufregung wieder futsch, allerdings keine besonders große Überraschung.
Denn bereits beim Testplanschen gegen die Slowakei (1:3), als auch beim Duell mit den Ungarn (2:0) war das nach dem Ausfall von Marco Reus verwaiste Ressort "links vorne" vom gebürtigen Schalker mit viel Liebe und nach eigenem Bekunden auch mit guten Leistungen betreut worden. Anders als die beiden anderen als Mitbewerber gehandelten André Schürrle (er jokerte jeweils) und Lukas Podolski (er hatte noch Pflichtspielverpflichtungen in der Türkei).
Bliebe noch Mesut Özil. Der spielt zwar lieber in der Mitte, präzisiert, auf der Zehn. Doch er kann's auch auf Links. Dort musste er beispielsweise bei der Weltmeisterschaft 2014 aushelfen, weil auch damals Reus kurzfristig passen musste. Dass der Spielmacher aber erneut Opfer der Lädierten-Rochade wird, ist nahezu ausgeschlossen - auch wenn manch einer aus seinem Einsatz in der Trainings-B-Elf das schließen mag. Denn Özil, das hat Thomas Schneider durchblicken lassen, ist derzeit – jetzt wird's wieder kurz inhaltsstark- in "so einer hervorragenden Verfassung", - jetzt folgt die hohe Kunst erzählend-inhaltsleeren Rhetorik- "dass man ihn auf der Zehn spielen lassen kann." Wenige Tage zuvor hatte bereits der Bundestrainer erklärt, dass der "Mesut jetzt für die Mannschaft am wertvollsten ist, wenn er in der Zentrale spielt."
Neuer eifert Schneider nach
Draxler also. Vor vier Jahren noch gemeinsam mit Marc-André ter Stegen, Sven Bender und Cacau (!) an der Nominierungshürde von 23 Spielern gescheitert, durfte er in Brasilien bei der Gastgeber-Demütigung (7:1) tüchtige 14 Turnierminuten sammeln und muss nun als vermeintliches Stammpersonal für Tempo, Druck, Dribblings und Flanken sorgen. Er selbst, der vergangenen Sommer wegen eskalierter Erwartungshaltung aus Schalke flüchtete und in der VW-Metropole Wolfsburg anheuerte, fühlt sich bereit für die Herausforderung 2016: "Ich bin gut drauf und hoffe auf meine Chance."
Vielmehr erwartet er sie mittlerweile. "Ich habe in der Vorbereitung gut Gas gegeben, ich fühle mich gut und möchte spielen, aber der Bundestrainer wird entscheiden, was das Beste für die Mannschaft ist", sagte der gebürtige Schalker dieser Tage den Kollegen von "Sport1" und hob dabei gleich nochmal zwei wichtige Argumente für eine, für seine Startelf-Berechtigung hervor: Die gute Rückrunde und die Qualitäten im Eins-gegen-eins und Zwei-gegen-eins gegen tiefstehende Gegner.
Daran erfreut sich auch Keeper Manuel Neuer, der diese Qualitäten allerdings im besten Fall nur aus weiter Ferne betrachten muss. Er bewirbt seinen ehemaligen Mannschaftskollegen mit folgender Laudatio: "Julian sehe ich sehr stark. Er hat in den letzten Spielen gute Leistungen gezeigt und dann präsentiert er sich im Training auch sehr gut." Um allerdings noch eiligst nachzuschieben: "Wir haben aber auch in der Offensive gute Alternativen." Ein Satz, wie ihn Thomas Schneider nicht hätte besser daherplaudern können.
Quelle: ntv.de