Dreierkette, Drama, Tiefschlag "Scholl-Kritik an Löw komplett überzogen"
04.07.2016, 09:57 Uhr
Löw ließ gegen Italien mit einer Dreierkette spielen. Deutschland gewann nach einem denkwürdigen Elfmeterschießen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Auf dem Weg zum EM-Titel muss Deutschland nun Frankreich aus dem Weg räumen. Ob ihnen das gelingt, wie das Team die Ausfälle von Khedira und Gomez verkraftet und wer jetzt stürmen sollte, verrät "Welttorhüter" Lutz Pfannenstiel im Interview mit n-tv.de. Auch, wieso Portugal bisher eine "Frechheit" war und wie der deutsche Finalgegner heißen wird.
n-tv.de: Ihr Traum war ein Finale Deutschland - Frankreich. Jetzt treffen die beiden Teams bereits in der Vorschlussrunde aufeinander.
Lutz Pfannenstiel: Ja, leider, denn das ist das bereits vorgezogene Endspiel. Aber davon gab es ja mehrere: Italien gegen Spanien, Deutschland gegen Italien und nun eben Frankreich gegen Deutschland. Das ist das Tragische bei diesem EM-Turnier. Aber es ist natürlich auch ein absolutes Traumhalbfinale.
Und der Sieger ist dann gleichzeitig Topfavorit für das Finale?
(lacht) Ja, das würde ich auf alle Fälle sagen. Ich gehe sogar davon aus, dass der Gewinner der Partie Frankreich gegen Deutschland auch Europameister werden wird.
Deutschland hat Spanien-Bezwinger Italien niedergerungen, Frankreich locker-flockig das Überraschungsteam Island aus dem Turnier gekickt. Wer ist Favorit im Halbfinale der beiden "Großen"?
Lutz Pfannenstiel ist der erste Fußballer, der in seiner Karriere auf sechs Kontinenten gespielt hat: 25 Vereine in 13 Ländern - nachzulesen in "Unhaltbar - Meine Abenteuer als Welttorhüter". Seit seinem Karriereende verantwortete er unter anderem den Bereich International Relations und Scouting beim Fußball-Bundesligisten 1899 Hoffenheim. Er war von 2018 bis 2020 Sportdirektor beim Bundesliga-Traditionsverein Fortuna Düsseldorf. Seit August 2020 ist er Sportdirektor beim MLS-Verein St. Louis City SC.
Pfannenstiel ist zudem als TV-Experte für verschiedene nationale und internationale Sender wie ESPN, SRF, BBC und DAZN tätig. Er ist Auslandsexperte beim DFB und Trainerausbilder bei der FIFA. Pfannenstiel ist zudem der Gründer von Global United FC.
Wenn man das ganze Turnier betrachtet und mal die Verletzungen und Sperren weglässt, dann hätte ich gesagt: Deutschland. Aber "hätte, wenn und aber" gibt es nicht.
Richtig. Im deutschen Team fehlen Mats Hummels gelbgesperrt und Mario Gomez verletzt. Dazu sind Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira fraglich. Wie schwer wiegen diese Personalsorgen?
Mit Hummels und Gomez verliert das deutsche Team zwei Säulen, die auch in den vergangenen Partien herausragend gespielt haben. Vor allem das EM-Aus von Gomez wiegt schwer, weil er sich als treffsicherer Stoßstürmer wieder etabliert hat und sich damit Bundestrainer Joachim Löw auch offensiv mehr Möglichkeiten geboten haben. Das System mit der "falschen" Neun ist nicht mein Fall.
Wer rückt für Gomez in die Startelf gegen Frankreich?
Ich setze auf Thomas Müller als klassischen Mittelstürmer. Er kann das spielen - und in den vergangenen Partien hat sich gezeigt, dass man mit einem "Neuner" gefährlicher war und sich auch mehr Chancen herausgespielt hat. Das ist zwar noch nicht die EM von Müller, aber wenn bei ihm der Knoten platzt, kann er Spiele auch allein entscheiden.
Wird es Zeit für Leroy Sane?
Sane ist einer der aufregendsten Spieler im deutschen Team, keine Frage. Er hat durch seine wahnsinnige Schnelligkeit und seine Unbekümmertheit ein unheimliches Potenzial. Er könnte der teilweise schwerfälligen und schlecht stehenden französischen Abwehr wehtun. Aber am Ende entscheidet Bundestrainer Löw - nach den Trainingseindrücken und seinem Bauchgefühl. Und auch mit Andre Schürrle oder Mario Götze hat man noch Optionen.
Sollten Schweinsteiger und Khedira ausfallen, wer spielt dann neben Toni Kroos?
Emre Can oder Julian Weigl. Beide haben bewiesen, dass sie diese Rolle ausfüllen können. Motivieren braucht man im Halbfinale einer Europameisterschaft auch keinen mehr. Wer spielt, wird alles für das Team geben.
Bisher hat Frankreich bei großen Turnieren nur gewonnen, wenn sie einen absoluten Superstar in ihren Reihen hatten: Michel Platini oder Zinedine Zidane. Sie sagten, dass Ihr großer Turnierfavorit Frankreich ist. Also wer ist der neue Ausnahmespieler der Equipe Tricolore?
Die Franzosen sind mäßig ins Turnier gestartet. Der Druck auf den Gastgeber ist enorm. Mittlerweile läuft es besser, vor allem in der Offensivabteilung. Mit Antoine Griezmann hat man aber einen der abgezocktesten Stürmer der Welt. Wenn er allein vorm Tor ist, macht er von zehn Stück elf rein (lacht). Das ist seine absolute Stärke. Aber dann gibt es da auch noch Paul Pogba oder Olivier Giroud. Einen Topstar auf dem Level eines Platini oder Zizou sehe ich bisher aber nicht.
Und wer zieht ins Finale ein?
Das ist wirklich schwer zu sagen: Wir haben die besseren Defensive, da hat Frankreich Schwächen, wie auch die beiden Gegentore gegen Island gezeigt haben. Anderseits hat Frankreich eine sehr gute Offensive, die im Turnierverlauf immer besser ins Rollen gekommen ist. Ich denke, die Tagesform wird am Ende entscheiden.
Apropos Tagesform. Gegen Italien überraschte Bundestrainer Löw mit einer Dreierkette. Wie denken Sie, wird er sie auch gegen Frankreich spielen lassen?
Ich gehe von einer Viererkette aus. Die Dreiervariante war ideal für das Italienspiel. Nun geht es gegen Frankreich. Da denke ich, dass Löw zu seinem angestammten System zurückkehren wird. Allerdings funktionierte die Dreierkette gegen Italien so gut, dass Jogi vielleicht ins Grübeln kommt.
An der Umstellung auf die Dreierkette gab es harsche Kritik von ARD-Experte Mehmet Scholl. Teilen Sie die?

ARD-Experte Mehmet Scholl nahm sich nach dem Italien-Spiel Bundestrainer Löw, dessen Trainerstab und die Taktik, mit einer Dreierkette gegen Italien gespielt zu haben, zur Brust.
(Foto: picture alliance / dpa)
Nein! Die Kritik finde ich komplett unverständlich. Ich glaube auch, Mehmet Scholl war der Einzige, der die Dreierkette kritisiert hat. Man ist in der Runde der letzten Acht und spielt gegen Italien, die gerade die Spanier zerlegt haben - da ist die Überlegung auf eine Umstellung in der Abwehr auf Dreierkette durchaus legitim. Zudem: Deutschland steht im Halbfinale, hat den Angstgegner Italien bezwungen, da ist Kritik an Löw und seinem Trainerteam für jemanden, der keine Trainingseinheiten sieht oder eng an der Mannschaft dran ist, einfach nur komplett überzogen.
Wird es in dem Spiel wie zwischen Deutschland - Italien wieder zu einem Elfmeterschießen kommen?
Ich hoffe nicht, auch wenn das Elfmeterschießen irgendwie eine deutsche Tugend zu sein scheint. Am Ende ist es doch auch Lotterie.
Haben Sie schon einmal so etwas gesehen wie den Elferkrimi im Viertelfinale?
Es war eine Katastrophe. Die drei sichersten deutschen Schützen haben verschossen. Normalerweise bin ich auch nicht schadenfroh: Aber das Gehabe von Zaza vor dem Elfer, dieses Tanzen, dann die arrogante Geste von Pellé Richtung Manuel Neuer - das hat dann wohl selbst den Fußballgott verärgert (lacht).
Drei verschossene deutsche Elfmeter - das kennt man sonst nur von den Engländern. Wackelt diese deutsche Tugend etwa?
Nein. Das Elfmeterschießen war einfach von Nervosität geprägt. Vielleicht waren auch einige Spieler platt.
Sie haben es angesprochen, egal, wer sich durchsetzt, ins Finale geht er als Top-Favorit, denn das zweite Halbfinale lautet Wales gegen Portugal. Letztere haben nach 90 Minuten noch kein Spiel bei dieser EM gewonnen.
Ja, das ist ein schon dreist, fast schon eine Frechheit! Wenn eine Mannschaft mit fünf Unentschieden nach 90 Minuten sich bis unter die besten vier Teams spielt oder besser mogelt, dann ist das ein Unding und dem Modus dieser EM geschuldet. Portugal hat es als Gruppendritter nicht einmal geschafft, die enttäuschenden Österreicher, Island oder Ungarn zu schlagen oder in Führung zu gehen. Wales dagegen ist Gruppenerster, hat mehrfach gewonnen, den Geheimfavoriten Belgien eliminiert. Da muss sich die Uefa schon fragen, ob dieser aufgeblähte Modus mit dem Weiterkommen der vier besten Gruppendritten wirklich der Weisheit letzter Schluss ist.
Nun heißt es Gareth Bale gegen Cristiano Ronaldo: Wer trumpft im Halbfinale groß auf?
Egal, ob man Ronaldo mag oder nicht: Er hat bei der EM viel nach hinten gearbeitet, stellt sich in den Dienst des Teams, das bei diesem Turnier sehr defensiv auftritt. Bale ist bei Wales der herausragende Spieler, war nahezu an allen Toren beteiligt. Auftrumpfen könnten am Ende beide - wenn es Ronaldo tut, wird er dann wieder seine One-Man-Show abziehen. Aber bei der Torquote, die er über Jahre nun schon hat, muss man ihm diese Sperenzchen verzeihen. Er ist einer der besten Fußballer aller Zeiten.
Bale kommt da sympathischer rüber.
Absolut. Wie das ganze Team. Das hat bei dieser EM viele Pluspunkte gesammelt: Durch die Fans, die Spielweise, das Auftreten im Allgemeinen. Da haben sie Portugal schon etwas voraus.
Wer wird gegen Deutschland im Finale verlieren?
(lacht) Individuell hat Portugal die besseren Spieler. Die taktische Ausrichtung ist aber untypisch defensiv. Wales tritt als geschlossene Mannschaft auf, schießt Tore. Ich habe das Gefühl, dass Wales gegen Portugal die besseren Karten hat. Wales im Finale wäre auch irgendwie eine Krönung für das Turnier.
Und ein Seitenhieb gegen England.
(lacht) Wahrscheinlich sogar mehr als das. Die Engländer haben eine überragende Qualifikation gespielt. Aber im Turnier wieder nichts gerissen, gegen Island rausgeflogen. Die Mannschaft ist jung, hat gute Einzelspieler. Das Ausscheiden kann man fachlich eigentlich gar nicht erklären. Das ist halt wirklich Fußball!
Mit Lutz Pfannenstiel sprach Thomas Badtke
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Quelle: ntv.de