Frankreichs Rache für Azincourt Kanes "Schmerz" verlängert Englands unfassbare Tragödie
11.12.2022, 08:03 Uhr
England scheitert im WM-Viertelfinale.
(Foto: IMAGO/Agencia EFE)
England drängt ins WM-Halbfinale, spielt besser als Gegner Frankreich. Doch dann ist es wieder so ein verflixter Elfmeter. Harry Kane wird zur tragischen Figur. Ist dies etwa Frankreichs späte Rache für eine bittere Niederlage im Hundertjährigen Krieg?
Was für eine Schlacht. Franzosen und Engländer stehen sich gegenüber, beide sowohl mit Siegeswillen als auch Nervosität in den Augen. Schließlich geht es um alles. Um Leben und Tod. Es ist der 25. Oktober 1415 und bei der Schlacht von Azincourt in Nordfrankreich feiern die Truppen von König Heinrich V. einen der größten militärischen Siege des Hundertjährigen Kriegs über die Armee von Karl VI.
Beim 2:1 (1:0)-Sieg der Équipe Tricolore im WM-Viertelfinale an diesem Samstagabend steht zwar auch viel auf dem Spiel, aber es metzelt glücklicherweise niemand den anderen nieder. Dennoch sind auch diesmal die Franzosen die Favoriten auf den Sieg in der Schlacht. Zwar nicht wegen einer größeren Anzahl von Truppen auf dem Feld - gespielt wird hier 11 gegen 11, während in Azincourt das Kräfteverhältnis bei 3:2 oder gar 4:1 für die Soldaten Frankreichs gelegen haben soll - aber weil der amtierende Weltmeister ein starkes Turnier spielt und in Kylian Mbappé und Olivier Giroud die besten Torschützen in Katar stellt.
Doch dann kommt alles anders als vor gut 600 Jahren. Damals verfügen die Engländer über eine furchtbare Waffe: den Langbogen. Damit richten sie solch ein schreckliches Blutbad an, dass sogar Shakespeare darüber dichtet und eine ganze Nation Selbstbewusstsein tankt. König Heinrich wird bei der Heimkehr in London zum Helden ausgerufen, die französische Hof-Sprache daraufhin verdrängt und durch ein neues Nationalgefühl und eine Insel-Mentalität ersetzt.
Aber diesmal vergessen die Engländer ihre Langbögen in der Kabine. Es gibt in Harry Kane nur einen äußerst tragischen Helden. Und das englische Selbstbewusstsein stolpert mal wieder die Kellertreppe hinunter. Denn trotz großen Kampfes scheitern die Three Lions abermals an der die Nation schon so lange plagenden Elfmeterschwäche.
Fehler führen zu Elfmetern
Auf dem Schlachtfeld kann der kleinste Fehler über Sieg oder Niederlage entscheiden. Im Al-Bayt Stadion, dem Schlachtfeld dieses Viertelfinals, leisten sich Les Bleus gleich mehrere katastrophale Fauxpas. Doch während 1415 die von den Langbögen abgeschossenen Pfeile die Rüstungen der Franzosen durchtrennen, zischen diesmal nur Fußbälle über das französische Tor.
Und dann führen die Fehler auch noch zu Elfmetern. Ausgerechnet. Ein fieser, nachträglicher Trick der Franzosen womöglich? 600 Jahre verspätete Rache? Wie es auch sein mag: Das nationale englische Hemmnis erhält ein neues Kapitel. Die Tragik nimmt immer größere Ausmaße an. Die Leidensfigur diesmal: Superstar Kane. Der Kapitän der Briten verwandelt den ersten Elfmeter nach einem sehr ungeschickten Foulspiel von Aurélien Tchouaméni an Bukayo Saka eiskalt (54.) und schießt sich damit zum Rekordtorschützen seines Landes (mit Wayne Rooney gleichgezogen).
Weil aber Theo Hernández wenige Minuten vor dem Abpfiff der Meinung ist, er wolle in Sachen Ungeschicklichkeit noch einen drauflegen, rempelt er nach einer Flanke Mason Mount in der Nähe des Elfmeterpunkts um. Obwohl dieser an den langen Ball niemals herangekommen wäre. Der VAR meldet sich und es gibt den nächsten Strafstoß. Es läuft bereits die 84. Minute.
Ob in dieser Szene Harry Kane vielleicht auch an die deutsche Fußballgeschichte gedacht hat? In den Katakomben stellt ihm zwar niemand diese Frage, aber ein gewisser Uli Hoeneß dürfte dem Engländer auch ein Begriff sein. 1976 zimmerte der DFB-Kicker im EM-Finale gegen die CSSR, im ersten Elfmeterschießen im Endspiel eines großen Turniers, die Kugel vom Punkt in den Nachthimmel. Kane tut es ihm gegen Frankreich gleich. Ein paar Meilen weiter in der Wüste sollen zwei Kamele sich über den nächtlichen Wachrüttler durch Ball an Kopf beschwert haben.
"Das wird uns eine Weile verfolgen, aber wir werden auch das hinter uns lassen. Als Kapitän übernehme ich die Verantwortung, auch für die Ausführung des Elfmeters", sagt Kane nachdem die seit 1966 titellosen Engländer ausgeschieden sind. "Ich kann nicht meine Vorbereitung oder Details für den Fehlschuss verantwortlich machen", erklärte Kane. "Ich habe mich beim ersten Elfmeter genauso sicher gefühlt wie beim zweiten."
"Harry Pain" (Schmerz), titelt das Boulevardblatt "The Sun", verpasst den "herzzerreißenden Elfmeter". "Penalty Pain … again", vermeldet der "Mirror". Elfmeterschmerzen, schon wieder. Überall Schmerz, als wäre doch 1415. Tatsächlich hätten die Three Lions diese Schlacht von Al-Khor gut und gerne gewinnen können. Sie sind das gefährlichere Team, gerade auf den ersten Rückstand reagieren sie hervorragend mit wütenden Angriffen und dem schnellen Ausgleich. Harry Maguire scheitert am Pfosten, Kane ein ums andere Mal an Keeper Hugo Lloris.
Kane schwer getroffen
Aber dann wartet ausgerechnet wieder dieses nationale Trauma vor der Tür. Vor Kane sind etwa sein Trainer Gareth Southgate (EM-Halbfinale 1996) oder Saka, Marcus Rashford und Co. (EM-Finale 2021) zu den tragischen Figuren der englischen Fußballgeschichte geworden. Hinzu kommen die bitteren Pleiten im Elfmeterschießen 1990 im WM-Halbfinale gegen Deutschland oder im WM-Viertelfinale 2006 gegen Portugal, als Ex-Bayern-Star Owen Hargreaves als einziger trifft. Auch wenn es diesmal kein Elfmeterschießen ist. Neunmal müssen die Briten zu einem solchen bei Welt- und Europameisterschaften antreten, siebenmal gehen die Three Lions als Verlierer vom Feld.
Auch Frankreich hat in diesem Turnier eine spezielle Waffe. Den Langbogen der WM, wenn man so will. Doch auch wenn Kylian Mbappé gegen England ein paar wenige Male sein pfeilschnelles Tempo zeigt, Rüstungen durchdringt er an diesem Abend nicht.
So ist es erst Sechser Tchouaménie, der früh die Waffen wetzt und mit einem gezielten Fernschuss zur frühen Führung trifft (17.). Nach Englands Ausgleich markiert dann der das komplette Spiel abgemeldete Altstar Giroud seinen vierten WM-Treffer (78.). Weil der ebenso glücklose und fehlerhafte Antoine Griezmann doch noch eine perfekte Flanke auf den Platz zaubert. In diese stößt Giroud, mit Kopf statt Lanze, weil Englands Abwehrtürme Maguire und John Stones ihn ein einziges Mal nicht im Griff haben. Zusätzlich Tragik für die Three Lions.
Am Ende der Schlacht von Al-Khor gibt es zum Glück keine Leichenberge wie damals in Azincourt. Dennoch sinkt Kane nach dem Abpfiff schwer getroffen in die Knie. Die Teamkollegen versuchen, den am Boden zerstörten Stürmer wieder aufzubauen. Pickford verscheucht die sich heranpirschenden Kamerateams. Dann tritt England den Rückzug an und Frankreich steht jubelnd im WM-Halbfinale. Zum zweiten Mal in Folge. Ganz ohne Langbögen.
Quelle: ntv.de