Tuchel irritiert, Weidenfeller schimpft BVB ist trotz Reus völlig von Sinnen
23.11.2016, 07:59 Uhr
Marco Reus (r.) legte eine Galavorstellung hin.
(Foto: imago/Team 2)
Marco Reus ist nach 185 Tagen zurück. Als Kapitän führt er Borussia Dortmund in einem denkwürdigen Spiel gegen Legia Warschau. Das hat so viele Geschichten zu erzählen, dass das eifrig bejubelte Comeback beinahe untergeht.
Hätte Borussia Dortmunds Torwart Roman Weidenfeller nicht vier Mal den Ball aus dem Tor holen müssen, hätten sich seine Vorderleute Marc Bartra, Matthias Ginter und Co. nur ein kleines bisschen konzentriert, und hätten sich die Funktionäre des BVB nicht eine ganz blöde Panne vor Spielbeginn erlaubt, dieses historische Champions-League-Spiel gegen Legia Warschau am Dienstagabend in Dortmund hätte nur eine Geschichte zu erzählen: Das brillante Comeback von Borussias ewigem Pechvogel Marco Reus. Beim spektakulär-lustigen 8:4 (5:2)-Erfolg im letzten Gruppenheimspiel erzielte der Stürmer, der nach 185 quälenden Tagen endlich wieder auf dem Fußballplatz stand (sogar als Kapitän), zwei Tore. Weil aber all das andere halt passiert war, ging die Rückkehr der Nummer elf ein klein wenig unter.
So richtig wussten die Spieler des BVB nach Abpfiff und erreichtem Torrekord in der Champions League nicht so recht, was sie jetzt machen sollten. Also trotteten sie aus Gewohnheit zur Südtribüne, zu ihren treuesten Fans, guckten sich kurz fragend an und machten dann die Welle. Wenn man nun schon mal da ist, dann darf man sich auch feiern lassen. Schließlich hatten sie ja auch über 90 Minuten für allerbeste Unterhaltung gesorgt. Auf beiden Seiten des Platzes allerdings. Vorne beeindruckend schnell, schön, gut und treffsicher, hinten haarsträubend schlecht bis desaströs. Und so eine kleine Auszeit vor dem vom Fußballklamauk völlig beseelten Anhang verschiebt ja schließlich auch die Begegnung mit dem Trainer. Der hatte an der Seitenlinie zunehmend miese Laune bekommen - war aber auch nicht in der Lage, das Geschehene und Gesehene seriös einzuordnen.
Tore: 0:1 Prijovic (10.), 1:1 Kagawa (17.), 2:1 Kagawa (18.), 3:1 Sahin (20.), 3:2 Prijovic (24.), 4:2 Dembele (29.), 5:2 Reus (32.), 6:2 Reus (52.), 6:3 Kucharczyk (57.), 7:3 Passlack (81.), 7:4 Nikolic (83.), 8:4 Rzezniczak (ET/90.+3)
Borussia Dortmund: Weidenfeller - Rode, Ginter, Bartra (62. Durm), Passlack - Sahin (70. Aubameyang) - Kagawa, Castro - Pulisic, Dembele (72. Schürrle) - Reus. - Trainer: Tuchel
Legia Warschau: Cierzniak - Bereszynski, Czerwinski, Pazdan, Rzezniczak - Kopczynski, Guilherme (55. Jodlowiec) - Kucharczyk, Radovic, Odjidja-Ofoe (75. Nikolic) - Prijovic (69. Wieteska). - Trainer: Magiera
Schiedsrichter: Strömbergsson (Schweden)
Gelbe Karten: Ginter - Odjidja-Ofoe, Pazdan
Ballbesitz: 69:31 Prozent
Zweikämpfe: 55:55
Zuschauer: 55.094
Torschüsse: 17:11 - Ecken: 1:1
"Das war surreal. So etwas habe ich noch nie erlebt", erklärte Thomas Tuchel schließlich und musste mit etwas Abstand zum Schlusspfiff selbst ein wenig grinsen. "Ich tue mich sehr schwer mit einer sachlichen Analyse. Diese Partie ist auf den ersten Blick nicht so einfach zu beurteilen." Nun, vielleicht muss sich der Coach beim Aufbereiten der Partie gegen die überforderten Polen gar nicht so viel Mühe machen, denn ein solches Spiel des BVB, völlig von Sinnen, wird es so nicht mehr geben. Egal, ob Tuchel bei der nächsten Partie gegen Eintracht Frankfurt, oder im Endspiel um den Gruppensieg am 7. Dezember bei Real Madrid, wieder viele Reservisten - im Vergleich zum Ligaspiel gegen die Bayern hatte er sein Team gegen Warschau auf neun Positionen verändert - auf den Rasen schickt, oder seine vermeintliche Stammelf. Wobei die nun, wo immer mehr Spieler gesund und fit sind, noch schwerer zu finden ist.
Plötzlich mit Fixpunkt
Denn da ist ja plötzlich auch wieder Marco Reus. Über ein halbes Jahr nach seinem letzten Auftritt in einem Fußballspiel stand der 27-Jährige gegen Warschau ziemlich überraschend in der Startelf und schließlich 90 Minuten auf dem Platz. Diese Zeit nutzte er, um das zu zeigen, was sich der Trainer von ihm vorstellt: "Wir haben fest mit ihm als Fixpunkt gerechnet in dieser Saison." Zwei Tore - sein vermeintlich drittes in der Nachspielzeit wertete die Uefa nachträglich als Eigentor - und zwei Vorlagen gelangen dem spielfreudigen Reus bei seinem beeindruckenden Comeback. "Ich habe für diesen Moment hart gearbeitet. Ich freue mich, dass ich dem Team helfen konnte. Das war ein wichtiger Schritt für mich, so stellt man sich einen Einstand vor."

War während und nach der Partie völlig bedient: der machtlose Roman Weidenfeller im Dortmunder Tor.
(Foto: imago/Newspix)
Das galt indes nicht für Roman Weidenfeller, der urplötzlich wieder in den Mittelpunkt, sprich ins Tor gerückt war. Stammkeeper Roman Bürki hatte sich gegen die Bayern einen Handbruch zugezogen. Weidenfeller also sollte es richten. Doch sein Comeback ging gründlich schief - ohne das er wirklich etwas dafür konnte. Vier Gegentore, völlig desolate Vorderleute und dann noch Internet-Spott und -Häme für seinen verunglückten Fallrückzieher im Strafraum. "Mir ist der Spaß vergangen", sagte der Torwart. "Ich kam mir fehl am Platz vor. Wir müssen viel besseres Verteidigungsverhalten an den Tag legen." Trainer Thomas Tuchel sprang ihm zur Seite: "Roman tut mir am meisten leid. Er ist zurecht sauer."
Anders als gegen die Bayern, als die Defensivarbeit herausragend gut war, wirkten die Abwehrversuche der Dortmunder Viererkette gegen Legia mitunter schlichtweg peinlich. Sowohl was die Abstimmung im Kollektiv anging, als auch was jeder Einzelne in den Zweikämpfen zeigte. Vor allem der als Ersatz für Mats Hummels verpflichtete Marc Bartra spielte vogelwild. Der Spanier kam nur zum Einsatz, weil ein BVB-Funktionär vor Spielbeginn Bartras Namen aus Versehen angegeben hatte. Eigentlich sollte Abwehrchef Sokratis auflaufen, doch weil bei der an die Uefa übermittelten Aufstellung sein Teamkollege aufgeführt worden war, blieb der Grieche draußen. Ist die Aufstellung offiziell gemeldet, darf zwar ein Spieler noch ausgetauscht werden - der andere flöge aber nicht nur aus der Startelf, sondern auch aus dem Kader. Zudem wäre auch noch eine von drei möglichen Wechseloptionen aufgebraucht gewesen.
Also spielte Bartra, und er spielte richtig schlecht. Schlecht im Stellungsspiel, schlecht im Zweikampf und viel zu riskant im Spielaufbau. Immer wieder ermöglichte er mit seinen Patzern polnische Konter und Tore. Dass auch Nebenmann Matthias Ginter keinen guten Tag erwischte, offenbart das Dilemma bei den Schwarzgelben: Denn während der teaminterne Druck im offensiven Mittelfeld auf die Etablierten Mario Götze, André Schürrle und Gonzalo Castro immer weiter wächst - weil Marco Reus wieder da ist, die Talente Christian Pulisic und Ousmane Dembéle begeisternd aufspielen und auch der zuletzt wenig berücksichtigte Shinji Kagawa gegen Warschau nicht nur wegen seines Doppelpacks extrem auffällig war - hat Tuchel in der Abwehr kaum gute Alternativen. Erst recht nicht für Zweikampf-Koloss Sokratis.
Wenn der Grieche mal eine Pause braucht, fehlt es hinten an Struktur, Bissigkeit und Führung. Dieses Fass wollte Tuchel nach dem Spektakel gegen Warschau indes nicht aufmachen: "Wir haben deutlich Luft nach oben im individuellen Zweikampfverhalten und im Absichern von Kontern. Im Endeffekt haben wir es trotzdem geschafft, dass Spiel sehr klar zu gewinnen. Die eklatanten Fehler müssen wir aber auf jeden Fall ansprechen. Aber ich kann heute auf jeden Fall wunderbar schlafen." Es gibt ja auch viel zu verarbeiten.
Quelle: ntv.de