"Wie Fußball ohne Ball" BVB trotzt Grauer Wand, Fans protestieren
19.02.2017, 09:39 Uhr
"Trotzdem wünschen wir uns, dass wir so etwas wie heute nicht mehr erleben müssen und wieder die volle Atmosphäre von vier Seiten haben."
(Foto: imago/Uwe Kraft)
Ganz Dortmund tut sich schwer beim Anblick seines menschenleeren Heiligtums im Westfalenstadion, doch der VfL Wolfsburg ist viel zu schwach, um das Momentum auszunutzen. Nun hoffen sie im Revier, dass die Normalität zurückkehrt.
Der einsame Protest ging auch am Spieltag weiter: "Herr vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. DFB+BVB" stand auf dem Pappschild geschrieben, das Hans Weinhold eine Stunde vor Spielbeginn vor sich hertrug. Seit 25 Jahren hat der bekennende Fan von Borussia Dortmund nicht ein Heimspiel seiner Borussia verpasst, sein Wohnzimmer ist die Südtribüne, nie habe er sich in dieser Zeit etwas zuschulden kommen lassen. Doch an diesem Samstag durfte er trotzdem nicht auf seinen gewohnten Platz. Und das mochte der 66-Jährige nicht einsehen, und deshalb zog der Fan mit schwarz-gelbem Trikot und Plakat an der Hand seiner Lebensgefährtin los. Als Ein-Mann-Demo, an den Tagen vor dem Bundesligaspiel gegen Wolfsburg war er in der Innenstadt zu sehen und vor Anpfiff dann vor dem Stadion.

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(Foto: imago/Eibner)
Weinhold war in dieser so fußballverrückten Stadt nicht der Einzige, der Schwierigkeiten hatte, sich an diesem besonderen Tag zurechtzufinden. Doch vielleicht war es ja sinnvoll, innezuhalten und sich neu zu orientieren, zwei Wochen, nachdem die Dortmunder Südtribüne mit ihrem fürchterlich niveaulosen Protest gegen RB Leipzig deutschlandweit als Schandfleck gebrandmarkt worden war und auch die schlimmen Übergriffe auf die Fans des Aufsteigers zu sanktionieren waren. Als Folge blieb Dortmunds Heiligtum leer. Es war ein Anblick, der gewöhnungsbedürftig war: Die Gelbe Wand, größte Stehplatztribüne überhaupt und laut BVB-Trainer Thomas Tuchel ein "Monument des Weltfußballs", präsentierte sich als lebloses, graues Betongebilde. Es war ein tristes Bild, das Dortmunder Stadion mit 56.903 Besuchern ausverkauft zu wissen, obwohl 24.454 Fans ausgesperrt waren.
Kapitän Marcel Schmelzer konstatierte nach dem Abpfiff, ihn habe ein "komisches Gefühl" beschlichen, "es war irgendwie wie beim Trainingsaufwand im Sommer". Auch Jakub Blaszczykowski dürfte sich nicht ganz wohl gefühlt haben, als er vor Spielbeginn vor ungewohnter Kulisse geehrt wurde. Acht Jahre lang war der Pole für Borussia Dortmund gestürmt, nun läuft er für Wolfsburg auf, doch als der Publikumsliebling vor Spielbeginn einen verspäteten Blumenstrauß überreicht bekam, waren die Menschen, die ihn am meisten lieben, nicht an ihrem gewohnten Platz. Dahin, wohin Kuba eigentlich in diesem Moment gelaufen wäre, herrschte gähnende Leere.
Ultras auf der Nordtribüne
Was alle Dortmunder als herben Verlust werteten, nahmen die Gäste aus Wolfsburg als unverhoffte Chance wahr. Trainer Valérien Ismael sprach davon, "falls es jemals einen guten Zeitpunkt gab, in Dortmund zu spielen, dann ist vielleicht jetzt". Mit dieser Einschätzung hatte sich der Franzose allerdings mächtig verhoben. Die Gelbe Wand blieb für die Wolfsburger auch verwaist unbezwingbar, weil sich der Gast aus Niedersachsen so schlecht präpariert zeigte, dass er nicht einmal über das Basislager hinauskam.
"Der BVB ohne Südtribüne ist wie Fußball ohne Ball", hatte Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke vor Spielbeginn mit tragenden Worten betont, doch als der Anpfiff ertönte, zeigte die Borussia trotz der gewöhnungsbedürftigen Begleiterscheinung eine überzeugende Leistung und gewann ohne größere Mühen mit 3:0 (1:0) gegen einen Kontrahenten, der über 90 Minuten ein erschreckend schwaches Bild abgab. Es war ein wirklich ansehnlicher Vortrag der Dortmunder, die erstaunlich viel Unterstützung erfuhren, weil sich viele Ultras mit Karten auf der gegenüberliegenden Nordtribüne eingedeckt hatten. Das war möglich, weil die Gäste lediglich etwas mehr als 1000 Karten ihres Kontingents abgegriffen hatten und deshalb jede Menge Tickets auf dem Markt gespült wurden.
"Danke DFB und BVB"
Ihrem Unmut, auf der falschen Seite ihres Stadions stehen zu müssen, machten die Fans mit dem Transparent, "Gäste im eigenen Stadion, danke DFB und BVB" und anderen Verlautbarungen Luft. Als der Ball dann rollte, sahen die Betrachter, dass die ungewohnten Begleiterscheinungen die Gastgeber nicht aus dem Gleichgewicht bringen konnten. Tuchel sprach nach einer frappierend einseitigen Partie von einem "vollkommen verdienten Sieg, wir haben viele Chancen herausgespielt und wenig zugelassen". Dem mochte Ismael nicht widersprechen, der bei seinem überforderten Ensemble bemängelte, "dass wir über 90 Minuten viel zu wenig getan haben, um die Dortmunder in Bedrängnis zu bringen".
Der BVB stürmte munter drauflos und machte da weiter, wo er beim 0:1 in der Champions League bei Benfica Lissabon aufgehört hatte: Jede Menge Chancen, kein Ertrag. Die Gastgeber erspielten sich gegen hoffnungslos unterlegene Wolfsburger bereits in der Anfangsphase fünf erstklassige Möglichkeiten, die jedoch durch Bartra, zwei Mal Aubameyang und zwei Mal Reus sämtlich vergeben wurden.
Beinahe folgerichtig fiel die Führung durch ein Eigentor des VfL. Manndecker Jeffrey Bruma bugsierte eine Hereingabe von Piszczek mit dem Kopf über die Linie. Überhaupt erwiesen sich die Gäste aus Niedersachsen als äußerst zuvorkommend, weil sie ihre Widersacher in der Rückwärtsbewegung lediglich begleiteten, anstatt sie mit Überzeugung zu attackieren. So fiel es dem BVB leicht, den Vorsprung durch die starken Lukasz Piszczek und Ousmane Dembélé zu erhöhen, ohne sich dabei verausgaben zu müssen. Nach all den Verwerfungen der letzten Wochen werden sie es in Dortmund mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen, dass nun wieder so etwas wie Alltag einkehrt. Zumindest, wenn es nach Trainer Tuchel geht. Der sprach von einem "guten Abschluss einer sehr intensiven Phase" und konstatierte: "Wir hatten angesichts der Umstände eine wirklich tolle Stimmung. Dabei hat natürlich geholfen, dass wir viel angegriffen und Tore gemacht haben. Trotzdem wünschen wir uns, dass wir so etwas wie heute nicht mehr erleben müssen und wieder die volle Atmosphäre von vier Seiten haben."
Quelle: ntv.de