
In Aktion: Emre Can.
(Foto: picture alliance/dpa)
Mehr als 30 Minuten versinkt die DFB-Elf in Lethargie und droht gegen Belgien unterzugehen. Nach der ersten Horror-Hälfte spielt die Auswahl von Trainer Hansi Flick besser. Zu verdanken haben sie das vor allem einer Einwechslung. Die Einzelkritik im Überblick.
Marc-André ter Stegen: Zumindest Marc-André ter Stegen ist absolut nichts vorzuwerfen. Dennoch hat der 30-Jährige bei der DFB-Auswahl mal wieder kein Glück: Er hütete jetzt zum 32. Mal das Tor der deutschen Fußball-Nationalmannschaft - das erneut grundsolide und trotzdem steht nicht die Null. Bei allen drei Gegentreffern ist er machtlos und hat - wie die gesamte DFB-Auswahl - sogar Glück, dass Belgiens Romelu Lukaku und Dodi Lukebakio in der ersten Hälfte die Latte beziehungsweise die Werbebande neben dem Pfosten treffen. Ansonsten zeigte die deutsche Interims-Nummer-Eins, warum sie beim FC Barcelona unumstritten ist: Im Spielaufbau war er auch unter Druck absolut sicher und bewies manchmal ein hervorragendes Auge für seine Mitspieler. So wie er einmal Außenverteidiger Wolf mit einem langen Ball quer über den Platz geschickt hat und so eine Chance für die deutsche Mannschaft einleitete.
David Raum: So richtig glücklich lief es für David Raum auch nicht. Vor ihm spielte zumindest in der ersten halben Stunde Florian Wirtz, der ihn dann doch etwas alleingelassen hat. Und so agierte der Leipziger vor allem defensiv in der ersten Hälfte nicht wirklich gut. Seine eigentliche Stärke, die gefürchteten Flanken, setzte Raum einfach nicht ein.
In der 68. Minute wurde er durch den Freiburger Christian Günter ersetzt. Der in der Partie wenig neue Akzente aufdrücken konnte. Tatsächlich sah er beim dritten Treffer der Belgier, einem Kontertor, nicht sonderlich gut aus.
Matthias Ginter: Für Matthias Ginter war es eigentlich ein Feiertag: das fünfzigste Länderspiel! Ob es eines sein wird, dass er niemals vergessen wird? Das weiß nur er. In der ersten Hälfte war er grundsolide, machte keine großen Fehler. Für einen Innenverteidiger ist das doch ein Kompliment. Nach der Pause machte Trainer Hansi Flick ihn dann zum persönlichen Bewacher für Lukaku. Auch die Aufgabe erfüllte Ginter souverän. Der Belgier traf bis zu seiner Auswechslung in der 69. Minute nicht mehr.
Thilo Kehrer: Tja, Thilo Kehrer wird diesen Abend wohl nicht so schnell vergessen. Der Innenverteidiger von West Ham United rückte für Nico Schlotterbeck rein, der wegen muskulärer Probleme vorzeitig abgereist war. Und naja, Kehrer hatte ziemlich sicher schon besser Spiele. Gerade von den Duellen mit dem wuchtigen Lukaku wird er wohl Albträume haben. Mehrfach zerschellte er regelrecht an dem 1,91-Meter-Hühnen. So sehr, dass sich auf den Rängen einige belgische Fans das Lachen nicht verkneifen konnten. Dass Kehrer es eigentlich besser kann, bewies er später, in der 64. Minute, als er Lukaku im Zweikampf den Ball stibitzte. Aber das war dann doch etwas zu spät.
Marius Wolf: Eigentlich lassen sich mit Marius Wolf derzeit tausend Zeilen füllen. Der Dortmunder ist gerade einer der spannendsten Newcomer unter Trainer Flick. Denn nach dem Testspiel gegen Peru blitzte sowas wie Hoffnung bei Fußball-Deutschland auf: Ist er es? Füllt etwa Wolf die seit Jahren klaffende Lücke auf der rechten Verteidigerseite? Nun, es bleibt weiter kompliziert. Denn der 27-Jährige kennt seine Stärke: die Offensive. Immer wieder schob er wahnsinnig hoch, immer wieder fuhr er Vorstöße, die für Belgien gefährlich wurden. Also ist die Lücke gefüllt? Leider nicht so richtig, denn Wolf löst dann doch nicht alle Probleme. Gerade in der ersten Hälfte fand er sich immer wieder im undankbaren Eins-gegen-Eins gegen den belgischen Flügelwirbler Yannic Carasco wieder. Und sehr häufig verlor er diese Duelle auch. Manchmal reichte schon eine einfache Körpertäuschung. Unglücklich sah Wolf auch aus, als er bei einem Konter des belgischen Herthaners Lukebakio einfach überlupft wurde.
In der 80. Minute wurde er durch Josha Vagnoman ersetzt. In der kurzen Zeit konnte der Stuttgarter keine großen Akzente setzen.
Joshua Kimmich: Angetreten war Joshua Kimmich, um nicht nur Aushilfskapitän der deutschen Nationalmannschaft zu sein, sondern auch, um die nun wieder schwarz-rot-goldene Binde dauerhaft zu tragen. Seine Aufgaben gegen Belgien löste er solide. Er versuchte gerade zu Beginn der Partie im Gegenpressing, das zu ordnen, was eigentlich nicht zu ordnen war. Manchmal hatte er die undankbare Aufgabe, allein den Spielaufbau der DFB-Auswahl zu lenken. Nach Flicks Umstellung fand er etwas besser ins Spiel, überragte aber keineswegs. Sein Fehlpass am belgischen Sechzehner leitete in der 78. Minute das zwischenzeitliche 1:3 ein, seine sonst gefürchteten Chip-Bälle blieben harmlos.
Leon Goretzka: Das Sechser-Duo Goretzka/Kimmich wird dem Bundestrainer noch einige Kopfschmerzen bereiten. In der Nationalelf funktioniert es noch nicht so wirklich, gegen Belgien standen beide dann doch etwas zu hoch und ließen die Abwehr gerade in der ersten halben Stunde häufig allein. Goretzka machte dabei das, was ihn auszeichnet: Er warf sich in jeden Zweikampf. Bis er nach knapp 30 Minuten verletzt ausgewechselt wurde.
Nach einem Umknicken wurde er ab der 32. Minute durch Emre Can ersetzt.
Der Vergleich ist vielleicht etwas speziell, aber: Wenn bei Hertha BSC meist gegen Ende der Partie Kevin-Prince Boateng eingewechselt wird, verändert dies das Spiel der Berliner. Der 36-Jährige strahlt noch immer etwas aus, was sich mit Worten schwer beschreiben lässt. Er dirigiert Angriffe, gibt seinen Mitspielern Selbstbewusstsein mit. Vielleicht lässt sich so das Phänomen bei Can beschreiben. Denn immer, wenn der 29-Jährige in den vergangenen beiden Spielen für das DFB-Team auf dem Feld stand, spielte die deutsche Mannschaft anders: einfach besser. Das lag auch an der taktischen Umstellung, die Trainer Flick mit seiner Einwechslung diesmal vornahm. Mit Can gab es danach einen festen Sechser, der die Position vor der Abwehr ausfüllte. Und wie er das machte: Can beruhigte das deutsche Spiel, strukturierte es. Immer wieder nahm er sich die Zeit, seine Nebenleute zu ordnen. In den Zweikämpfen ließ der Dortmunder nie nach - und brachte damit genau das mit ein, was vom Bundestrainer gefordert wurde: Mentalität. Seine Einwechslung verhinderte wohl, dass die Belgier einen Kantersieg feierten. Er war der beste DFB-Spieler auf dem Platz.
Florian Wirtz: Der Tag begann für Florian Wirtz eigentlich ganz gut. Vor der Partie wurde er im Stadion des 1. FC Köln, für dessen Jugendmannschaften er mehr als neun Jahre lang gespielt hatte, vom DFB mit der Fritz-Walter-Medaille ausgezeichnet. Diese Ehrung bekommen besonders begabte Teenager verliehen. Doch leider erwischte der talentierte Wirtz nicht den besten Tag. Immer wieder hatte er ungenaue Pässe in seinem Spiel. Er konnte - Achtung, super abgegriffene Floskel - die Talent-PS nicht auf die Straße bringen. Was aber kein Problem ist, schließlich wird der 18-Jährige dafür ziemlich sicher noch viele Möglichkeiten haben.
In der 32. Minute wurde er durch Felix Nmecha ersetzt. Der Wolfsburger spielte eine defensivere Rolle als Wirtz, deshalb lässt sich das nicht so ganz vergleichen. Aber der 22-Jährige kam gut in die Partie und zeigte sich sehr pass- und ballsicher.
Serge Gnabry: Der Münchner wurde mit fortschreitender Zeit immer besser. Gnabry war für den erkälteten Kai Havertz in die Startelf gerutscht. Häufig wirkte er etwas alleingelassen. In der 17. Minute dribbelte er an der eigenen Sechszehnerkante die halbe belgische Offensivabteilung aus. Nach der Halbzeit legte er dann nochmal kräftig zu. Seine Dribblings wurden danach auch in der gegnerischen Hälfte gefährlich. Bei seinem Traumsolo durch die Abwehrreihe der belgischen Teufel in der 84. Minute verpasste er nur den Abschluss, dafür gelang ihm drei Minuten später der Treffer zum 2:3.
Niclas Füllkrug: Nach dem Peru-Spiel taufte ntv.de Füllkrug die Lebensversicherung des DFB-Teams. Und auf der Police der Nationalmannschaft steht nun ein weiteres "Lücke"-Tor zu Buche. Nach einer Ecke köpfte er den Arm von seinem belgischen Pendant, Lukaku, an - und trat zum fälligen Elfmeter an. Gegen Peru hatte Havertz noch einen Strafstoß gegen den Pfosten geschossen. Anders Füllkrug: Der traf und schraubte seine beachtliche Torquote damit auf sechs Treffer in sechs Partien hoch. Ansonsten gab es viele typische "Lücke"-Momente. Der aktuell Führende der Bundesliga-Torschützenliste mühte sich und versuchte, auch als Mittelstürmer aktiv am Spiel teilzunehmen. Dabei sah nicht immer unbedingt glücklich aus: hier mal ein Fehlpass, da ein missglücktes Zuspiel mit der Hacke. Am Ende ist das (fast) egal, seinen Treffer hat der Mittelstürmer gemacht.
In der 80. Minute wurde er durch Kevin Schade ersetzt. Der Angreifer des FC Brentford brachte nochmal Feuer in die Partie rein und bereitete den 2:3-Treffer von Gnabry vor. Auch sonst sorgte er an der Seitenlinie in der Schlussphase nochmals für viel Tempo.
Timo Werner: Für Timo Werner blieb es dann doch irgendwie verhext. Nach seinem schwachen Auftritt gegen Peru folgte ein erneut nicht berauschendes Spiel gegen Belgien. Lange Zeit nahm er praktisch kaum teil, auch ihm half die Umstellung nach der 30. Minute. Danach kam der Leipziger weiter von außen, seinem Spiel tat das gut. Den ersten Abschluss hatte er zehn Minuten später, aber blieb den Rest der Partie offensiv dann doch eher blass. Dafür zeigte er in der Rückwärtsbewegung überraschend viel Engagement.
Ersetzt wurde Werner in der 80. Minute mit Mergim Berisha. Es ist schwierig, in so kurzer Zeit einem Spiel seinen Stempel aufzudrücken. Dem Augsburger gelang das nicht wirklich, mit seinem Pass auf Schade leitete er aber immerhin das 2:3 ein.
Quelle: ntv.de