Fußball

Nach riesigem Ballon d'Or-Wirbel Musiala zeigt den feinen Herrschaften, dass sie sich mächtig irren

Auftrag erfüllt, DFB-Team überragend zum Sieg geführt: Jamal Musiala.

Auftrag erfüllt, DFB-Team überragend zum Sieg geführt: Jamal Musiala.

(Foto: IMAGO/Moritz Müller)

Wer ist nochmal alles zurückgetreten? Ach, egal! Die Nationalmannschaft spielt, als wäre nichts gewesen. Gut, Nations-League-Gegner Ungarn macht es dem Team auch leicht. Das zaubert sich in die Herzen der Fans.

Die, die nun nicht mehr da sind, sind immer noch die, die am präsentesten sind: In die U-Bahn zum Düsseldorfer Stadion, an dem an diesem Samstagabend die deutsche Fußball-Nationalmannschaft die höchstinstanzlich von Bundestrainer Julian Nagelsmann ausgerufene Mission "WM-Titel 2026" mit dem spektakulären Nations-League-Auftakt gegen Ungarn (5:0) aufnahm, stiegen Hunderte Thomas Müllers ein und Hunderte Toni Kroos‘. Aber sie waren nicht die einzigen. Ihre Nachfolger, zumindest in der Liebe und Hoffnung der Fans, saßen auch in der U78 auf dem schleichenden Weg über die Kaiserwerther Straße: Jamal Musiala und Florian Wirtz heißen sie.

Sie stehen für die Gegenwart und die Zukunft. Müller und Kroos sind nur noch Symbol für die Vergangenheit: für einen WM-Triumph, aber auch für dunkle Zeiten und für Starthilfe in die neue Zeit. Geleistet bei der Heim-EM vor wenigen Wochen. Und diese neue Zeit gönnt sich keine Auszeit, keine Anlaufprobleme, lediglich träge 20 Minuten gegen Ungarn. Dann spielen sich Musiala und Wirtz in Düsseldorf das erste Mal frei, sie machen sich im Vollsprint auf Richtung ungarisches Tor. Doch ihr Angriff versandet (noch) auf den schlammschweren Füßen von Niclas Füllkrug. Aber im Fußball gibt es ja diese Erweckungsmomente. Dieser war einer. Die bis dato noch arg lethargischen Fans erwachten aus dem Post-EM-Kater. Die Mannschaft auch. Und um Ungarn war’s geschehen.

Gut hat das Team es bis dahin gemacht, nicht sehr gut. Aber das reichte, um die neue, noch suchende DFB-Elf erstmal blind in ein schwarzes Loch zu schicken. Was mussten die Männer von Bundestrainer Julian Nagelsmann alles neu regeln. Die Kapitänsfrage (Joshua Kimmich übernimmt), die Nummer-eins-Frage (Marc-André ter Stegen macht’s, sehr gerne sogar), die Maschinistenfrage (Pascal Groß kümmert sich) und so weiter und so fort. Deutschland hatte nach dem emotionalen Heim-Turnier, dass das Band zwischen Team und Nation endlich wieder enger, richtig eng, zurrte, vier große Helden verloren: den Strategen Toni Kroos, den ewigen "Manu"-el Neuer, den hauseigenen Radiosender Thomas Müller und den oft unterschätzten Kapitän und Spielgestalter Ilkay Gündogan. Das muss man erstmal verpacken. Zweifel gab’s!

Weg mit dem deutschen Beamtentum

Nagelsmann hatte versucht, diese wegzureden. Er möchte kein Gejammer hören, sagte Nagelsmann. Er setze auf die Kraft der Spieler, die lange im Schatten standen. Wohl wissend, dass Fußballfans generell ein großes Faible für das alte, manchmal verklärte Heldentum haben. Umso besser, dass zwei Helden den Status der Auszubildenden längst verlassen haben: Musiala und Wirtz nämlich. Die Zeitenwende lässt sich derweil auch farblich bemessen: Die Müller-Kroos-Zeit ist überproportional auf den weißen Trikots vertreten. Die Musiala-Wirtz-Zeit ist pink-bunt. Wie die Nationalmannschaft, wie ihre Spielweise.

Deutschland - Ungarn 5:0 (1:0)

Tore: 1:0 Füllkrug (27.), 2:0 Musiala (58.), 3:0 Wirtz (66.), 4:0 Pavlovic (77.), 5:0 Havertz (81., Foulelfmeter)

Deutschland: ter Stegen - Kimmich, Tah, Schlotterbeck, ab 69. Koch, Raum, ab 69. 20 Henrichs - Andrich, ab 82. 19 Stiller, Groß, ab 60. Pavlovic - Wirtz, Havertz, Musiala - Füllkrug, ab 60. Beier. - Trainer: Nagelsmann

Ungarn: Gulacsi - Balogh, Orban, Dardai - Nego, ab 46. Bolla, Schäfer, Nagy, ab 83. Nikitscher, Kerkez, ab 66. Nagy - Sallai, ab 75. Csoboth, Szoboszlai - Varga, ab 66. Adam. - Trainer: Rossi

Schiedsrichter: Clement Turpin (Frankreich)

Gelbe Karten: - Nego

Nagelsmann will nicht nur gewinnen. Das Beamtentum will er dem deutschen Fußball austreiben. Sein Team soll mitreißen, verzaubern. Und Musiala und Wirtz sind die perfekten Protagonisten. Das ist keine Erkenntnis dieses Samstagabends. Aber sie tritt besonders deutlich hervor, weil plötzlich keine Schatten mehr da sind, hinter denen sie sich verstecken können. Sie müssen die Mannschaft nun führen, noch nicht in kühler Kroos-Manier und nicht in Müller'scher Mundart. Aber mit ihren Füßen und die können so wahnsinnig viel. So viel, dass sie für den Ballon d’Or nominiert …, ah Moment!

Um Musiala hatte es in diesen Tagen große Aufregung gegeben. Der munterste Offensivspieler des deutschen EM-Teams, der geteilte Torschützenkönig, er steht nicht auf der Shortlist für die Wahl zum Weltfußballer. Dafür aber Wirtz, immerhin, Kroos, der Champions-League-Sieger und, Obacht, sogar Mats Hummels. Der FC Bayern verstand die Welt nicht mehr. Lothar Matthäus sagte: Selbst Schuld, ihr Münchner. Und der Ballon d’Or-Chef versuchte zu erklären, dass es wahrscheinlich an der mangelnden Effektivität des 20-Jährigen lag, dass der Ausschuss ihn für (noch) nicht tauglich befand. Was Musiala über all das dachte, weiß man nicht. Er sagte nichts.

Vier Grüße an den Ballon d'Or

Aber an diesem Samstagabend drückte sich Musiala mit der Sprache aus, die ihm die liebste ist: die Kunst am Ball. Dass die Ungarn die Düsseldorfer Arena wie geprügelte Hunde verließen, lag vor allem an dem jungen Münchner, der einen Spieltrieb entwickelte wie ein junger Welpe. Wo der Ball war, da war der stürmende, trickreiche Musiala nicht weit. Das 1:0 durch Niclas Füllkrug bereitete er kumpelhaft vor. Das 2:0 erzielte er selbst, nach einem Sololauf, den Wirtz mit einem brillanten Pass eingeleitet hatte. Die nächsten beiden Treffer durch Wirtz und den eingewechselten Aleksandar Pavlović legte er auf. Zweifel an der Effektivität? Weggewischt. Weggedribbelt. Weggezaubert. Weggewusialat.

Ein Spiel als klare Ansage an die feinen und hohen Herrschaften des Ballon d'Or-Komitees, dass sie sich geirrt haben. Und Nagelsmann konnte sich eine kleine Spitze gegen die Experten nicht verkneifen. "Wenn sie (Anmerk d. Red.: Musiala und Wirtz) so bleiben, dann sind sie irgendwann beide für den Ballon d’Or nominiert. Und dann gibt es das Potenzial für beide, ihn mal zu gewinnen."

Mit Wirtz "zu spielen, macht immer Spaß. Wenn wir im Rhythmus sind und Selbstbewusstsein haben, können wir den ganzen Abend rumzocken", begeisterte sich Musiala. Und er begeisterte Füllkrug, der ein Nutznießer der umgebauten DFB-Elf um seinen ins offensive Mittelfeld zurückgezogenen Sturmrivalen Kai Havertz ist, gleich mit: "Als Flo und Jamal noch mal richtig Lust bekommen haben in der zweiten Halbzeit - das war ein Genuss zu sehen. Das ist schwer zu stoppen. Wir sind echt glücklich, sie in der Truppe zu haben, das ist ein Geschenk. Da werden die Zuschauer die nächsten Jahre sehr, sehr viel Spaß dran haben." Als "Weltklasse" und "Segen für Fußball-Deutschland" bezeichnete Pascal Groß das Duo und versprach, auf die Super-Teenies aufzupassen. Der neue Kapitän Joshua Kimmich konstatierte: "Die sind schon sehr entscheidend für uns."

Wie lange dauert die Transformation einer Mannschaft? Beim DFB haben sie bei der Beantwortung der Frage nicht unbedingt die besten Erinnerungen. Die Weltmeister von 2014 retteten sich noch irgendwie durch die EM 2016 in Frankreich, ehe dunkle Wolken über ihnen aufzogen und sie jahrelang nass regneten. Das DFB-Team war der Pudel der Nation und egal, wer die Leine hielt, der Pudel war nicht von der Stelle zu bekommen. Er suhlte sich im Nass und vertrieb die Leute, die es gut mit ihm meinten. Doch dann hatte Nagelsmann Ende 2023 eine gute Idee, er ging mit neuen Rollen und einer rücksichtslosen Personalpolitik voll ins Risiko und trägt nun die geschmackvollen Früchte seiner Ernte. Auch wenn die EM dramatisch im Viertelfinale an Spanien und an Marc Cucurellas Hand endete. "Die Chemie in der Gruppe ist außergewöhnlich und der Nährboden für das, was wir erträumen, zu erreichen. Da ist keiner dabei, der ein Stinkstiefel ist - das ist sehr angenehm", lobte Nagelsmann.

"So was hat man lange nicht gesehen"

Der Bundestrainer wollte im Angesicht des nächsten Umbruchs, dieses Mal ja nicht freiweillig, nicht jammern und kein Gejammer hören. Nagelsmann will Weltmeister werden. Dass manche Experten ihm diese Ansage um die Ohren pfefferten, findet er verrückt. Und er lieferte ihnen die perfekte Antwort. Sein Team entwickelte eine mitreißende Spielfreude. Wenn Musiala, Wirtz und der neue Spielmacher Kai Havertz, der zweimal nur die Latte traf, ins Rollen kommen, kracht eine immense Wucht auf die Gegner. Die wird nicht nur die Ungarn stressen, bei denen außer bei Dominik Szoboszlai keine Extraklasse vorhanden ist. Einziger Makel: der Mangel an Effizienz. "Wir haben uns sehr viele Großchancen herausgespielt", lobte der Bundestrainer. "Wir kommen oft vor das Tor. Der einzige Kritikpunkt ist, dass wir noch einige Chancen ausgelassen haben."

Deutschland spielte schnörkellos, schnell und lustvoll. Nach vorne und nach hinten. Etwa zehn Minuten nach der Pause grätschte Kettenhund Robert Andrich mit galliger Leidenschaft als allerletzter Mann in einen ungarischen Schuss, er verhinderte das 1:1 und womöglich ein paar neue Sorgen. Die Teamkollegen wollten gar nicht mehr aufhören, den Gegentorverhinderer zu herzen. Der Trainer an der Seite ballte die Faust, die Fans feierten. "So was hat man lange nicht gesehen", sangen sie. Sie waren Major Tom, sie waren völlig losgelöst, wie diese Mannschaft die Fesseln der Zweifel an der Transformation fulminant zerschlagen hatte.

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Längst dachte auch keiner mehr an die ersten 20 Minuten, die mit der dramatisch Hymne der Nations League und einer großen Choreo mit dem Bundesadler eingeleitet worden war. Da suchte das Team, blind ins schwarze Loch gestoßen, nach den eigenen Haltegriffen. Peu à peu fand sie die. Torwart ter Stegen rutschte zwar direkt aus, das war aber sein einziger Wackler. Jonathan Tah agierte so gelassen, als hätte es nie das ausgeuferte Theater um seinen möglichen Wechsel zum FC Bayern gegeben. Er ist Anführer in Abwesenheit (und womöglich auch in Anwesenheit) von Antonio Rüdiger, der nach dem Kräfte zehrenden Sommer eine Pause bekam. Und Groß, der alte Mann mit dem schwierigsten Erbe innerhalbt des DFB-Teams, trat nach ein paar ersten noch sehr vorsichtigen Schritten immer fester auf. Das Eis war dick genug, um nicht einzubrechen. Er forderte den Ball, suchte Lösungen, traute sich immer mehr zu. Kurz, lang, sicher, riskant. Er spielt alles. Chef? Chef!

Das ist die Aufnahme nach diesem Abend. Die Belastbarkeit der Erkenntnisse wird am Dienstag dem nächsten, einem vermutlich deutlich aussagekräftigeren Stresstest unterzogen. Dann geht es in Amsterdam gegen die Niederlande (ab 20.45 Uhr bei RTL und im Liveticker bei ntv.de). In der Düsseldorfer U78, auf dem Weg zurück, reihten sich die geschwitzten aber glückilich Körper eng aneinander. Nichts war mehr zu lesen, nur zu hören. Und die, die sprachen, sprachen nur noch zwei Fußballer. Über Musiala und Wirtz.

Quelle: ntv.de

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