Die EM, die Teams, der Modus "Dann kotzt du als Gruppenerster ..."
10.06.2016, 12:12 Uhr
Müller, Hummels, Özil: Stell dir vor, du bist Gruppenerster und fliegst im Achtelfinale gegen einen schlechten Gruppendritten durch einen Sonntagsschuss oder eine Schiedsrichter-Fehhlentscheidung raus ...
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Fußball-EM beginnt, die ersten Stammtisch-Diskussionen sind geführt: Bringt es Schweinsteiger noch? Hat sich Bundestrainer Löw mit seinem jungen Kader verzettelt? Was hat die Uefa geritten, 24 Teams zuzulassen? Und warum dieser Achtelfinalmodus? Welttorhüter Lutz Pfannenstiel sagt es n-tv.de im Interview. Und auch wer sein Topfavorit ist, wer überraschen könnte und ob die Politik auch eine Rolle spielen wird.
n-tv.de: Herr Pfannenstiel, nach dem WM-Titel in Brasilien haben Sie gesagt: 'Deutschland ist auf Jahre Titelkandidat'. Das erinnert etwas an Franz Beckenbauer nach dem WM-Sieg 1990. Bleiben Sie bei dieser Einschätzung, holt sich Weltmeister Deutschland auch die EM-Krone in Frankreich?
Lutz Pfannenstiel: (Lacht) Das wird schwierig. Aber ich muss die Aussage auch etwas relativieren. Deutschland ist nach wie vor einer der Favoriten. Aber nach der alles andere als überragenden EM-Qualifikation und den enttäuschenden Freundschaftsspielen muss ich klar sagen, dass die Form von der WM in Brasilien nicht mehr da ist. Zudem ist die Spitze wieder enger zusammengerückt und deshalb sehe ich Deutschland nicht als den Topfavoriten. Gleichzeitig greift aber wieder die alte Fußballweisheit: Deutschland ist eine Turniermannschaft und von daher ist ihr auch in Frankreich alles zuzutrauen. Vielleicht ja auch der Titel.
Wo liegen die Stärken des deutschen Teams?
Wir haben mit Manuel Neuer den momentan besten Torwart der Welt. Dazu kommen die bei Topvereinen spielenden sehr guten Individualisten wie Reals Toni Kroos oder Arsenals Mesut Özil. Und wir haben das Phänomen Thomas Müller, der aufgrund seiner 'Müller-Art' ein für den Gegner ganz schwer auszurechnender Spieler ist. Er macht egal wann, wie und wo seine Tore und kann Partien im Alleingang entscheiden.
Und die Schwächen?
Schwächen? Beim deutschen Team ist das Jammern auf allerhöchstem Niveau. Hierzulande hat man mit der Bundesliga einer der Top-3-Ligen der Welt. Sie bringt immer wieder neue frische Spieler hervor und Bundestrainer Joachim Löw versteht es auch, diese dann gegebenenfalls ins Team zu integrieren. Ich denke aber, dass die Mannschaft nach der WM mit Miroslav Klose, Per Mertesacker und Philip Lahm drei ihrer Säulen verloren hat, die über Jahre das Team mitgeprägt haben. Diese konnten so schnell nicht adäquat ersetzt werden. Das ist meiner Meinung nach die einzige wirkliche Schwäche der deutschen Mannschaft: der Umbruch im Team.
Mit Julian Brandt, Julian Weigl und Joshua Kimmich berief Bundestrainer Joachim Löw drei Neulinge in den vorläufigen Kader. Geschafft haben es dann mit Weigl und Kimmich immerhin zwei Haben sie zu Recht das EM-Ticket gelöst?
Zur Kaderauswahl gibt es von Natur aus schon immer verschiedene Meinungen. (Lacht) Ich denke, die Jungs haben ihre Chance verdient. Sowohl Brandt als auch Weigl und Kimmich haben in ihren Vereinen vor allem in der Rückrunde bewiesen, dass sie die Zukunft sind. Dass mit Kimmich und Weigl jetzt nur zwei zur EM fahren, ist bestimmt kein Beinbruch.
Dagegen wurde der Länderspiel- und EM-Quali-Dauerbrenner Sebastian Rudy gestrichen und auch nach dem Ausfall von Antonio Rüdiger nicht nachnominiert. Die richtige Entscheidung?
Lutz Pfannenstiel ist der erste Fußballer, der in seiner Karriere auf sechs Kontinenten gespielt hat: 25 Vereine in 13 Ländern - nachzulesen in "Unhaltbar - Meine Abenteuer als Welttorhüter". Seit seinem Karriereende verantwortete er unter anderem den Bereich International Relations und Scouting beim Fußball-Bundesligisten 1899 Hoffenheim. Er war von 2018 bis 2020 Sportdirektor beim Bundesliga-Traditionsverein Fortuna Düsseldorf. Seit August 2020 ist er Sportdirektor beim MLS-Verein St. Louis City SC.
Pfannenstiel ist zudem als TV-Experte für verschiedene nationale und internationale Sender wie ESPN, SRF, BBC und DAZN tätig. Er ist Auslandsexperte beim DFB und Trainerausbilder bei der FIFA. Pfannenstiel ist zudem der Gründer von Global United FC.
Ich sehe das aus Hoffenheimer Sicht natürlich etwas subjektiv. Aber: Rudy war immer dabei. Wenn er gespielt hat, hat er immer eine vernünftige Leistung abgerufen. Für uns als Verein wäre es sehr schön gewesen, einen Spieler fürs deutsche Team abstellen zu können. Aber Löw hat sich gegen Rudy entschieden. Punkt.
Was halten Sie vom Aus von Marco Reus?
Das hat mich schon etwas überrascht. Reus ist derzeit laut Löw körperlich einfach nicht so weit, dass es für den deutschen EM-Kader reicht. Das ist natürlich schade, dass die Gesundheit dem Spieler erneut einen Strich durch die Rechnung macht, bei einem großen Turnier, meiner Meinung nach dem zweitwichtigsten Fußballturnier der Welt, zu glänzen. Aber es ist nun einmal die Realität.
Die Begründung, dass er derzeit "nur geradeauslaufen" könne, wirft einen Vergleich zu Bastian Schweinsteiger auf, der trotz allem mit nach Frankreich fährt. Misst Löw hier mit zweierlei Maß?

Schweinsteiger ist für Pfannenstiel der verlängerte Arm von Bundestrainer Löw.
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Ganz klar: Nein. Schweinsteiger hat sich über Jahre seine Sporen beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft verdient. Löw vertraut ihm einfach, egal ob auf dem Rasen, auf der Bank oder in der Kabine - er ist der verlängerte Arm des Trainers. Schweinsteiger ist der Charakterkopf, der Leader des Teams. Er kann junge Spieler führen, sie schauen zu ihm auf. Reus dagegen ist von der Art her, vom Typ ein ganz anderer Charakter, viel ruhiger. Im Endeffekt entscheidet immer der Trainer. Er muss schließlich auch den Kopf dafür hinhalten. Aber die letzten Turniere haben gezeigt, dass die Auswahl von Löw immer die richtige war und die Kritik mancher Medien, Experten und Fans vor dem Turnier nicht gerechtfertigt war.
Wird das Schweinsteigers letztes großes Turnier?
Wenn er nach der EM bei Manchester United eine gute Saison spielt; wenn er verletzungsfrei bleibt - dann kann ich mir vorstellen, dass er auch bei der nächsten WM in Russland noch dabei sein wird. Aber es gibt halt diese Wenns, von daher kann es durchaus sein, dass die EM sein letzter großer Auftritt in der Nationalmannschaft ist.
In Frankreich spielen erstmals 24 Teams um den Titel. Was hat sich die Uefa dabei gedacht?
(Lacht) Die hat sich dabei einfach nur gedacht: Lasst uns ein längeres und größeres Turnier machen, weil wir im Sommer sonst nichts zu tun haben …
Teilen Sie die Kritik von Bundestrainer Löw, der die Aufstockung für 'fragwürdig' hält und von Thomas Müller, der den 'sportlichen Stellenwert' anzweifelt?
Ja, ganz klar. Ich sehe das ebenso kritisch. Wenn man zurückblickt auf die EM 1988 in Deutschland: Da haben nur die acht besten Mannschaften Europas gespielt. Nun sind 24 dabei. Das verwässert wie Müller richtig sagt, die absolute Spitze natürlich schon. Andererseits bietet das aber auch den Underdogs wie Albanien, Island oder Nordirland die Chance, sich einmal bei einem großen Turnier zu beweisen. Das bewerte ich klar positiv. Was mich wirklich stört, ist der Modus.
Also die Aufteilung in sechs Vierer-Gruppen. Die ersten beiden jeder Gruppe sind ebenso für das Achtelfinale qualifiziert wie die vier besten Gruppendritten.
Ja, der Achtelfinalmodus mit den besten Gruppendritten ist Schwachsinn. Es reicht somit vielleicht ein gutes Spiel, vielleicht auch nur ein Sieg, um ins Achtelfinale einzuziehen. In der Vorrunde schwach spielende Mannschaften gehören nicht in die K.o.-Runde. Sie spielen dann gegen einen Gruppenersten und eine Fehlentscheidung oder ein Sonntagsschuss reicht zum Weiterkommen. Dann kotzt du als Gruppenerster.
Durch die 24 Teams, Sie haben es schon angesprochen, sind auch vermeintlich 'Kleine' wie Albanien in der Gruppe A oder Island in der Gruppe F mit dabei. Frisches Blut gewissermaßen. Wie schätzen Sie deren Chancen ein, die Vorrunde zu überstehen?
Ich bin ja der einzige Deutsche, der bisher in der ersten albanischen Liga gespielt hat und habe gegen einige der Jungs noch selbst gespielt. Von daher fiebere ich auch mehr mit dem Team mit, als vielleicht andere. Durch den Modus mit dem Weiterkommen der vier besten Gruppendritten hat Albanien durchaus die Chance, die Vorrunde zu überstehen. Das gilt aber auch für die anderen Underdogs. Sie müssen aber über sich hinauswachsen. Albanien, Nordirland oder Island haben fußballerisch mit der Turnierteilnahme aber bereits einen Riesenschritt nach vorne gemacht.
Welches ist die wohl stärkste, die sogenannte Todesgruppe?
Für mich gibt es zwei Todesgruppen: D mit Kroatien, Tschechien, Spanien und der Türkei. Und E mit Belgien, Italien, Irland und Schweden. Das sind gefährliche Gruppen, wo es auch eine namhafte Mannschaft in der Vorrunde erwischen kann.
Wie schätzen Sie die deutsche Gruppe und die Gegner Polen, Nordirland und Ukraine ein?
Auf den ersten Blick ist das eine undankbare Gruppe, die auf den zweiten Blick absolut lösbar erscheint. Deutschland geht ja eh mit dem Ziel ins Turnier, den Titel zu holen. Da ist egal, wie die Gruppengegner heißen. Am stärksten schätze ich die Polen ein. Aber die kennen wir nun aus diversen Quali-Spielen. Von der Taktik ist bei ihnen alles auf Robert Lewandowski zugeschnitten. Nordirland spielt noch den eher altehrwürdigen britischen Stil. Die Spieler sind zwar nicht bei internationalen Topklubs, agieren aber nach einer klaren taktischen Vorgabe - und sind hart im Nehmen. Wenn man sich richtig darauf einstellt, sollte das - gerade für unsere spielstarke Mannschaft - kein Problem darstellen. Die Ukraine kommt mit einem talentierten Team, hat aber aufgrund der politischen Situation das Problem, dass die nationale Liga nicht wirklich funktioniert.
Wenn Sie tippen müssten, wie würde das Halbfinale aussehen?
Durch den Modus mit den Gruppendritten ist das natürlich schwer vorherzusagen. Aber ich wünsche mir die Halbfinals England gegen Deutschland und Spanien gegen Frankreich. Ich hoffe, dass England mit dabei ist, weil die Nationalmannschaft eine unwahrscheinlich gute Qualifikation gespielt hat und dennoch in den heimischen Medien aufs Schärfste attackiert wird. Zudem kommen da einige junge Spieler wie der 18 jährige Marcus Rashford von Manchester United nach, die einfach Spaß machen. Ich hoffe auf Deutschland, rechne mit Spanien - weil man das einfach immer machen muss -, und setze auf Frankreich ganz einfach deshalb, weil sie für mich der absolute Topfavorit des Turniers sind.
Wieso gerade Frankreich?

Wird Frankreichs Griezmann der Star der EM? Der Gastgeber ist für Pfannenstiel Turnierfavorit.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der Kader hat momentan die richtige Mischung aus Erfahrung und Jugend. Die gute Nachwuchsarbeit in Frankreich erntet jetzt ihre Früchte. Vor allem in der Offensive hat man unglaubliche Qualität. Antoine Griezmann, Olivier Giroud und Anthony Martial sind extrem torgefährlich. Dimitri Payet von West Ham ist mein Geheimtipp. Er spielte eine überragende Saison. Paul Pogba hält im Mittelfeld den Laden zusammen. Problem könnte die Defensive werden, weil Didier Deschamps viele Verletzungen kompensieren muss. Außerdem ist Frankreich zu Hause traditionell eine Macht. Titel im eigenen Land gehören genauso dazu wie Baguette und Rotwein.
Also am Ende alles wie gehabt?
Ja, ich denke schon, dass sich die Großen am Ende durchsetzen werden. Dass es ein Underdog bis ins Halbfinale schafft, damit rechne ich ehrlich gesagt nicht.
Welches Team könnte im Turnier überraschen?
Belgien muss man auf der Liste haben. Das Team mit einer Mischung aus jungen und hungrigen sowie gestandenen, abgezockten Spielern ist durchaus auch ein Kandidat fürs Halbfinale, wenn nicht sogar für mehr. Das wäre dann in dem Sinn überraschend, weil Belgien, als ehemalige Nummer eins der Fifa-Rangliste, bei großen Turnieren bisher nichts gerissen hat.
Nun hat die EM in Frankreich auch einen politischen Aspekt bekommen: Da wären die gewalttätigen Proteste und Streiks gegen das neue Arbeitsgesetz der Regierung; aber auch die Angst vor einem erneuten terroristischen Anschlag. Beeindrucken und beeinflussen diese Themen auch die Fußballer?
Ich glaube, die Mannschaften werden den Trubel zwar mitbekommen. Aber am Ende steht bei ihnen einfach der Fußball im Vordergrund. Sie sind alle Profis, können abschalten und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Ich denke, die Fans und Journalisten beschäftigen diese Themen viel mehr. Etwa auch, weil man sich überlegen muss, wenn es durch die Streiks kein Benzin mehr oder es Verzögerungen mit den öffentlichen Verkehrsmittel gibt, wie man zu den einzelnen Spielorten und Partien gelangt.
Die Sicherheitsvorkehrungen sind enorm hoch, der Ausnahmezustand dauert an: Wird es trotz allem eine friedliche EM, ohne Zwischenfälle abseits des Rasens?
Klar, die Gefahr, dass etwas passieren könnte, ist da. Allein schon deshalb, weil eine Vielzahl an Menschen vor Ort sein wird und ein Wahnsinniger ausreicht. Aber: Man darf sich davon oder sollte sich davon nicht verrückt machen lassen. Auch vor den Weltmeisterschaften in Südafrika und Brasilien gab es warnende Stimmen, wurde auch medial vor allem das Thema Kriminalität hochstilisiert. Am Ende war alles halb so wild, es blieb ruhig. Der Sport stand im Vordergrund. Deshalb: Wachsam sein, vorsichtig sein - und dennoch Spaß an den Spielen haben! Fußball verbindet und man darf sich von Terroristen nicht den Spaß am Leben nehmen lassen!
Mit Lutz Pfannenstiel sprach Thomas Badtke
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Quelle: ntv.de