Fußball

Reals wilder Ritt "tut weh" Das Unioner Wunder zerplatzt in elf Minuten

Robin Gosens und sein FC Union Berlin verloren gegen Real Madrid.

Robin Gosens und sein FC Union Berlin verloren gegen Real Madrid.

(Foto: IMAGO/Matthias Koch)

Sensation verpufft: Union Berlin schielt gegen Real Madrid auf ein Wunder, findet aber am Ende nur harte Realität. Ein wilder Kampf verhindert den ersten Sieg in der Champions League und das Überwintern in Europa. Über das Ende einer sensationellen Reise.

Die Natur vollbringt sie immer wieder. Jahwe, Jesus und Mohammed haben's auch getan. Der Fußballgott sowieso. Und Katja Ebstein besingt sie. Jetzt soll eben - warum auch nicht - Union Berlin dran sein. Mit einem Wunder, wie es so oft beschrien wird. Konkret heißt das: ein Sieg in der Champions League gegen Real Madrid. Die vielleicht größte Fußball-Mannschaft der Welt. Die Galaktischen.

Zum Glück muss im letzten Spiel der Eisernen in der Königsklasse nicht gleich ein Weltwunder à la Pyramidenbau her, schließlich hat Madrid die Tabellenführung in der Gruppe C bereits vor der Partie sicher. Es reicht ein kleines Köpenicker Phänomenchen. Ein wenig Sensation, und schon überwintert Union Berlin doch noch europäisch. Für den Fall, dass Neapel zu Hause gegen Braga gewinnt, wäre man in der Europa League.

Und tatsächlich sieht es eine Zeit lang so aus, als könnte der Plan aufgehen und die Mannschaft unter dem neuen Trainer Nenad Bjelica zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Tagen, nach dem erlösenden ersten Sieg in drei Monaten gegen Mönchengladbach am Samstag, für Furore sorgen - bis das spanische Starensemble eiskalt zuschlägt und Union in einem wilden und nach großem Kampf und abermals mit einem Gegentor kurz vor Schluss doch noch mit 2:3 (1:0) verliert. Nichts ist es mit dem ersten Champions-League-Sieg. Die sensationelle Reise der Eisernen durch das europäische Oberhaus geht zu Ende.

Unions Blitzstart, Reals Dominanz

"Das ist schon ein bisschen ärgerlich", ringt Kevin Volland in den Katakomben mit sich. "Wir haben den einen oder anderen Nadelstich setzen können, aber es hat wieder nicht gereicht." Warum es nicht für ein Wunder reichte? "Um in so einem Spiel zu gewinnen, brauchst du am Ende dann auch das Quäntchen Glück auf deiner Seite", sagt der Stürmer. Keeper Frederik Rönnow sieht ein "schwieriges Spiel gegen einen Weltklasse-Gegner", aber dass er "wieder ein Gegentor in der letzten Minute" bekommt, das "tut natürlich weh".

In der ersten Minute ist dafür fast schon das erste kleine Wunder perfekt: Nach einer Bogenlampe im Strafraum der Madrilenen, die ohne die Deutschen Antonio Rüdiger und Toni Kroos starten, leitet Rani Khedira den Ball volley zu Kevin Behrens. Ein erster Aufschrei geht durchs Rund. Aber die Direktabnahme des Stürmers aus guten fünf Metern lenkt der Real-Torhüter Kepa per Blitzabwehr über die Latte. Der neue Einsatzwille und die Emotionalität der Berliner, eingepflanzt von Bjelica, mit denen schon die Fohlen besiegt wurden, sie blitzt direkt auf.

Bei Ballbesitz Madrid ziehen sich die Unioner fortan aber mit einer Fünferkette tief an oder sogar in den Strafraum zurück. Statt des 4-1-4-1 beim Sieg gegen Gladbach setzt der neue Coach auf das 3-5-2 von Vorgänger Urs Fischer, weil Benedict Hollerbach, der am Samstag ein Tor erzielt hatte, nicht für die Königsklasse gemeldet ist. Der ehemalige Dortmunder Jude Bellingham meldet sich kurz darauf mit zwei Torchancen. Über den Engländer läuft praktisch jeder Angriff und Aufbau der Königlichen. Wenig später (16.) küsst Joselus Kopfball das Gebälk. Und immer öfter darf sich der dominante Rekordsieger der Champions League die Bälle beinahe unbedrängt in der Nähe des Unioner Strafraums zuspielen. Als Nächstes zimmert Fede Valverde einen Freistoß knapp neben den rechten Pfosten. Immerhin: Zu diesem Zeitpunkt führt Neapel bereits mit 1:0.

Elfer gehalten, Führungstor, ausrasten

Dann wird's gleich dreifach wundersam. Erneut ist es Joselu, der knapp die Führung verpasst: Einen katastrophalen Fehlpass von Gosens nimmt der Stürmer an der Strafraumkante auf, macht zwei Schritte nach vorne, aber anstatt in die Mitte zu Rodrygo zu geben, schießt er mit dem Außenrist daneben (43.). Sekunden nach der Topchance gibt es Elfmeter für Real, weil Diogo Leite den Ball bei einer Flanke von rechts klar mit der Hand spielt. Luka Modrić tritt an, der Altmeister lässt sich bei solch einer Möglichkeit normalerweise nicht zweimal bitten. Aber der Kroate schießt zu locker und mittig, Rönnow hält mit dem Fuß.

Der Urschrei der Union-Fans ist kaum verhallt, als der direkte Gegenzug nach der anschließenden Ecke läuft. Freund und Feind fliegen unter Rönnows langem Abschlag hindurch und nach einer Kopfballverlängerung macht David Alaba eine ganz unglückliche Figur. Den völlig missratenen Querschläger des Ex-Bayern nimmt Kevin Volland klasse mit der Brust mit, bleibt im Zweikampf körperlich stabil und schiebt cool mit rechts durch Kepas Hosenträger zur Führung ein (45.+2). Bjelica rastet an der Seitenlinie komplett aus.

Jeweils eine Chance ganz am Anfang und ganz am Ende der ersten Halbzeit, ein Tor zum psychologisch wichtigen Zeitpunkt Sekunden vor der Pause. Das riecht stark nach dem abgezockten und erfolgreichen FC Union der vergangenen Saison. Zusätzlich führt Neapel nun mit zwei Toren. Zu diesem Zeitpunkt scheint die Sensation und der erste Champions-League-Sieg in der Geschichte der Eisernen greifbar.

Rönnow fantastisch, Real unerbittlich

In der zweiten Hälfte, in der Kroos für Valverde auf den Platz kommt, klopft Union parallel zur ersten direkt nach Wiederanpfiff mit einem gefährlichen Angriff an (Kopfball Gosens). Wenig später kristallisiert sich Rönnow fast als persönlicher Wundermacher heraus: Zunächst hält er artistisch gegen einen eingesprungenen Scherenschlag von Lucas Vázquez. Dann lenkt er mit einem einhändigen Weltklassereflex, der jeden Handballtorwart vor Neid erstarren lässt, einen Kopfball von Rodrygo aus wenigen Metern katzenartig über das Aluminium.

Aber anschließend kann auch Rönnow nicht mehr retten, als wieder der Brasilianer auftrumpft, der sich diesmal auf rechts durchtankt, um butterweich in die Mitte zu flanken. Dort steigt Joselu am höchsten, wobei er sich gegen Paul Jaeckel kräftig aufstützt, und köpft zum Ausgleich ein (61.). Die Zuschauerinnen und Zuschauer wüten, das Tor wird gecheckt, bleibt bestehen und das Wunder rückt wieder in die Ferne.

Union wirkt geschockt und kommt minutenlang kaum an den Ball. Ein blitzsauberer Gegenstoß sorgt für den nächsten Stich ins Herz: Weil die Köpenicker eine Überzahlsituation in der Hälfte von Real ganz schlecht ausspielen und den Ball verlieren, hat Modrić im Mittelfeld viel Zeit und Raum. Er findet den auf der linken Seite nach vorne spurtenden Fran Garcia, der gerade noch die Kugel gewonnen hatte. Dessen Flanke köpft nach cleverem Laufweg wieder Joselu ins Netz (73.). Dass der in Stuttgart geborene 33-Jährige, der innerhalb von elf Minuten alle Unioner Hoffnungen zerstört, vor zehn Jahren noch fast mit der TSG Hoffenheim aus der Bundesliga abstieg, klingt an diesem Abend auch irgendwie wunderlich.

"Schönste Kneipe Europas"

Aber Achtung, anschließend wird es noch mal wild. Die Eisernen geben sich nicht auf und kämpfen aufopferungsvoll - und auf einmal zappelt der Ball im Netz. Nach etwas Kuddelmuddel am linken Strafraumeck der Madrilenen zieht plötzlich der eingewechselte Alex Kral aus dem Hintergrund ab, sein humorloser Flachschuss schlägt im linken Toreck zum Ausgleich ein (85.).

Geht da doch noch was? Der Glaube ist urplötzlich zurück, aber das Aufbäumen und die Hoffnung währen nur kurz, weil Dani Ceballos in der 89. Minute zu viel Freiraum bekommt und locker zum Endstand einschießen darf - Jérôme Roussillon fälscht noch unglücklich ab. "Wir waren bis zur letzten Minute am Leben, aber wenn du beim Stand vom 2:2 auf das dritte Tor drücken musst, ist Real Madrid zu gut, um das nicht für Konter zu nutzen", analysiert Bjelica später treffend.

Europa ohne Union, das Ende einer sensationellen Reise. Auch, weil im ungeliebten Olympiastadion alle drei Heimspiele verloren gehen, obwohl die 73.420 Fans wieder für große Unterstützung sorgen. "Wir brauchen die Alte Försterei wie die Luft zum Leben", steht auf einem überdimensionalen Banner, das unter der Gegengerade hängt. Darüber entrollen die Fans kurz vor dem Anpfiff eine komplette Liebeserklärung an ihr Stadion: "Schönste Kneipe Europas" und "Fußball im Grünen", heißt es auf Plakaten, und "Pilgerstätte des Zusammenhalts" und "Die Bastion, der Hexenkessel".

Harte Realität, gute Bundesliga-Chancen

Alltag statt Hexerei. Für die Königsklasse sind die Eisernen nicht reif genug, wobei sie doch mächtig stolz auf die Leistung an diesem Abend sein können. Die Realität heißt nun: Abstiegskampf. Am kommenden Sonnabend geht es zum VfL Bochum. Das klingt hart nach einem Champions-League-Abend gegen Real Madrid. Doch die Fans im und rund um das Stadion meckern nicht, denen die Mannschaft eine lange Ehrenrunde schenkt, sie wissen, dass sie in diesem Jahr eine Ausnahmesituation genießen durften. Sie fahren auch ohne Wunder erhobenen Hauptes nach Hause.

Vor allem beweist der wilde Abend gegen die Königlichen, gegen die andere Mannschaften schon viel schlechter ausgesehen haben, dass der FC Union durchaus gute Chancen hat, den Gang in die zweite Liga abzuwenden. Und mit seinem neuen Trainer anscheinend den richtigen Mann für diese Aufgabe gefunden hat. Ganz ohne Pyramiden, Jesus oder Ebstein.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen