Europa in Aufruhr Der Fußball feiert die beste Saison seit Ewigkeiten
04.12.2023, 20:55 Uhr
Auch der 1. FC Saarbrücken kann's kaum glauben.
(Foto: IMAGO/Fussball-News Saarland)
Sie haben zuletzt den Spaß am Fußball verloren? Verständlich, immer gewinnen die gleichen Teams. Doch irgendetwas hebt im vergangenen Sommer die Fußballwelt aus den Angeln. Die Zusammenfassung einer bemerkenswerten Hinrunde.
Sepp Herberger formuliert einst einen legendären Satz: "Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht." Nur scheint das in der Moderne nicht mehr zu gelten. Da entscheidet häufig das Geld. Der gemeine Fußball-Fan, immerhin Sponsor der ganzen Veranstaltung, hat in den letzten Jahren eine Menge ertragen müssen. Ewig jubelnde Bayern in der Bundesliga. Die FIFA an sich. VAR-Entscheidungen mit der Transparenz von Beton oder die bis zur Unkenntlichkeit verschlimmbesserte Hand-Regel. Die Zerrissenheit, dass man sich eigentlich freuen möchte, wenn das Lieblingsteam sich am letzten Spieltag für den Europapokal qualifiziert hat, aber gleichzeitig weiß, dass man jetzt noch drei TV-Abos mehr abschließen muss. Obendrauf kommen die Sportswashing-Offensiven Katars und Saudi-Arabiens, sozusagen als Headliner auf dem Fanfest der Entfremdung.
In der Bundesliga marschiert der FC Bayern seit über zehn Jahren zum Titel. Etwa vor einem Jahr beginnt der Klub zwar, aus allen Rohren zu feuern, wenn es um Unterhaltung abseits des Platzes geht (Neuers Skiunfall, die Trennung von Nagelsmann, die Trennung von Salihamidžić, die Trennung von Kahn), doch der medial wankende Riese bleibt in der Bundesliga stets so souverän, dass es für den Titel (und ein 4:0 gegen den BVB) reicht. Selbst im letzten Jahr, als der Rekordmeister bereits ausgezählt schien.
In England sieht es kaum besser aus. Pep Guardiola, der beste Trainer der Welt und sein ihm komplett ergebener Klub erschaffen mit unendlichen Ressourcen eine Maschine, die Fußball nur noch durchzusimulieren scheint. Auch in der langersehnten Königsklasse ist gegen Manchester City kein Kraut mehr gewachsen. Beim 4:0-Halbfinalsieg im Mai kommt Real Madrid, der sonstige Dauersieger des Henkelpotts, böse unter die Räder. Der Weltfußball ist ein von Geld ausgehebelter Wettbewerb, in dem sich nichts mehr ändert, außer der Summe für die höchste Transferablöse.
Was Sie bisher verpasst haben
Aber irgendwann im Sommer 2023 beschließt die Realität, einen Moment Pause zu machen. Denn das, was in den vergangenen Monaten über die Stadien Europas hinwegrollt, kann nur der Fantasie entsprungen sein. Falls Sie aus all den oben genannten Gründen Abstand vom Fußball-Zirkus genommen haben, hier mal eine unvollständige Liste aller unvorhergesehenen Absurditäten:
- In Spanien ist der FC Girona (!) Zweiter, punktgleich mit Real Madrid.
- Die Bundesliga genießt einen existenten Titelkampf, angeführt von einem furios aufspielenden Bayer Leverkusen.
- Der Stuttgarter Stürmer Serhou Guirassy entdeckt seinen inneren Gerd Müller und schießt 16 Tore.
- Kurios: Er ist trotzdem nicht Erster in der Torjägerliste (weil Harry Kane bei 18 Toren steht).
- Manchester United ist nach fünf Spieltagen Letzter seiner Champions-League-Gruppe - und das hinter den Bayern, Galatasaray Istanbul und dem FC Kopenhagen.
- Die Bayern wiederum fliegen bereits in der zweiten Runde gegen Saarbrücken aus dem DFB-Pokal.
- Das gallische Dorf Union Berlin steckt im Abstiegskampf.
- Der FC Schalke 04 steckt im Abstiegskampf - in Liga Zwei.
- Es gibt auf Sky einen Fußball-Talk mit Roman Weidenfeller und Riccardo Basile.
Ajax, Lyon, Union, Schalke - Abstiegskampf
Die Hälfte der Saison ist gespielt und es sieht tatsächlich so aus, als könnte (!) es in allen vier Top-Ligen Europas einen neuen Meister geben. Doch keineswegs lohnt sich das Schauen nur für sportliche Höhenflüge. Auch komplett unerklärliche Leistungseinbrüche liegen im Trend. In den Niederlanden legt Vorzeigeklub Ajax Amsterdam den schlechtesten Saisonstart seit 1965 hin. Ende September wurde Sportdirektor Sven Mislintat entlassen, mittlerweile hat sich der Klub einigermaßen gefangen.
Von Olympique Lyon kann man das wahrlich nicht behaupten. Der einstige französische Serienmeister ist Letzter. Ein Sieg steht bisher zu Buche. Und in Deutschland rätseln Experten, Fans und Verantwortliche gleichermaßen über die Multikrisen auf Schalke und in Köpenick. Ausgerechnet zwischen Champions-League-Spielen gegen Real Madrid und den SSC Neapel schleicht sich eine Spielzeit, in der das passiert, was von Union alle Außenstehenden seit ihrem Aufstieg erwarten - Abstiegskampf. Der unverwüstliche Urs Fischer, Symbolfigur des Märchenaufstiegs der vergangenen Jahre, ist mittlerweile nicht mehr Trainer.
Auf Schalke gerät durch den sportlichen Absturz wieder mal das Gesamtkonstrukt ins Wanken. Trainer Thomas Reis ist entlassen, Sportdirektor Peter Knäbel zum Sommer abbestellt. Im Hintergrund moderiert der ewige Clemens Tönnies die eigene Rückkehr an, bisher erfolglos. Für Lichtblicke sorgte einzig der momentan verletzte Rohdiamant Assan Ouédraogo. Ein baldiger Abgang des 17-Jährigen scheint beschlossene Sache.
Über allem steht Jude Bellingham
Doch auch etabliertere Spieler wissen zu überraschen. Der im Sommer von Lothar Matthäus dem FC Bayern empfohlene Serhou Guirassy trifft und trifft und trifft, als würde es morgen verboten werden. Manuel Neuer scheint, fairerweise wie angekündigt, einfach wegignorieren zu können, dass er knapp ein Jahr lang nicht auf dem Feld stand.
Und Alejandro Garnacho hat zwar vor Elfmetern mehrmals den Rasen kaputtgetreten, aber kürzlich vermutlich das Tor des Jahres erzielt. Es sei den gebeutelten United-Fans gegönnt. Über allem schwebt Neu-Madrilene Jude Bellingham. Der Ex-Dortmunder hat die Fans der Königlichen im Sturm erobert, wortwörtlich. Carlo Ancelotti entwirft für ihn nach seiner Ankunft extra eine neue Rolle, hinter den beiden nominellen Stürmern soll Bellingham die Freiheit haben, immer wieder in den Strafraum zu ziehen. Er erzielt in 17 Spielen 15 Tore. In Dortmund waren es 24. In drei Jahren.
Damit schießt Bellingham Real zwar an die Tabellenspitze, aber ganz konkurrenzlos sind seine Königlichen nicht. Noch vor dem FC Barcelona ist der FC Girona erster Verfolger, sogar punktgleich. Erst im vergangenen Jahr aufgestiegen, kann der Klub, der zu Hause nur vor knapp 15.000 Leuten spielt, bisher mit den Granden des spanischen Fußballs mithalten. Und ja, möglicherweise hat das Fußballmärchen auch etwas mit der Tatsache zu tun, dass die City Group Miteigentümer Gironas ist, und immer wieder Spieler mit Manchester-City-Vergangenheit das rot-weiße Trikot tragen.
Chelsea und United taumeln durch die Liga
Das von Pep Guardiola trainierte Mutterschiff auf der Insel hat zurzeit sogar etliche Konkurrenten um den Meistertitel. Die Citizens rangieren derzeit nur auf dem dritten Platz, zwischen Tabellenführer Arsenal und dem Tabellenvierten Aston Villa liegen gerade einmal vier Punkte Abstand. Gar nichts mit der Tabellenspitze zu tun haben der Nachbar Manchester United (7.) sowie der zum planlosen Prestige-Projekt verkommene FC Chelsea (10.), der trotz illustrer Transferausgaben auch unter Neu-Coach Mauricio Pochettino nicht in die Spur findet. Einfach nur Geld zu haben, scheint in der Premier League endgültig nicht mehr zu reichen.
Viel besser kann es eigentlich nicht mehr werden. Und vielleicht wird es das auch nicht. Vielleicht wird am Ende auch alles wieder elendig langweilig, die Bayern gewinnen durch ein Tor in der 15. Minute der Nachspielzeit am letzten Spieltag die Meisterschaft, Real Madrid holt die Champions League und Frankreich die Europameisterschaft. Für den Moment ist die einzige Konstante aber die Überraschung. Daher ein Appell an alle, die dem grünen Rasen in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt haben: Schauen Sie doch mal wieder Fußball. Zurzeit wissen die Leute nicht, wie es ausgeht.
Quelle: ntv.de