
Trauer.
(Foto: picture alliance/dpa)
Völlig überraschend stirbt am Dienstag Hertha-Präsident Kay Bernstein. Der Fußball-Zweitligist versinkt in Fassungslosigkeit und sucht nach Normalität. Einen großen, letzten Traum gibt es dennoch.
Mitten im Januarschnee brennen viele kleine Lichter. Auf dem Betonvorplatz des Berliner Olympiastadions hat sich ein kleines Blumenmeer gebildet. Davor steht eine Gruppe Hertha-Fans, vielleicht 50 Leute. Immer wieder nähern sich und verlassen Menschen die stille Traube. Kaum jemand spricht. Dieser Ort, der an Spieltagen so unbeschreiblich laut, energiegeladen und trubelig sein kann, ist gespenstisch ruhig. Aus der Ferne hört man die Züge, die keinen Kilometer entfernt auf dem Bahnhof rangiert werden.
Und nun stehen sie an diesem frühen Mittwochnachmittag da, vor der improvisierten Gedenkstätte. Es ist eiskalt. Sie sind fassungslos. Denn sie trauern um den Hertha-Präsidenten Kay Bernstein, der am Dienstag völlig überraschend und viel zu früh verstorben war. Hertha-Logos prangen auf ihren Jacken, ihren Mützen, ihren Handschuhen, ihren Rucksäcken, ihren Schals. Sie legen Blumen nieder, einige sind den Tränen nah. Zwischen den ganzen Sträußen stehen Grablichter. Manche sind mit Gläsern und Teelichtern improvisiert, auf einem klebt sogar ein Union-Berlin-Logo. Ein Bierkasten trägt mittlerweile Blumen statt Flaschen, daneben liegen ausgebrannte Pyrofackeln. Auf einem Zettel steht: "Aus der Kurve bis für immer in unserem Herzen. Ruhe in Frieden."
Bernstein war kein normaler Präsident eines Fußball-Bundesligisten. Der 43-Jährige war einer der ihren: Er war der, der aus der Kurve kam - auch, wenn er diese Erzählung nicht mochte. Für seinen Klub hat er, im wahrsten Sinne, Blut gelassen. Er finanzierte sich mit Spenden damals die Auswärtsfahrten, erzählte er mal gegenüber ntv.de. Er war Mitgründer der Harlekins, die Ultragruppe war stolz darauf, Anfang der 90er-Jahre die Nazis aus dem Stadion vertrieben zu haben.
Der "Berliner Weg"
Das war früher. Ende Juni 2022 wählten ihn die Mitglieder überraschend zum Hertha-Präsidenten. Binnen kürzester Zeit hatte er den Hauptstadtklub, der im Eiltempo durch den Investorenwahnsinn irrte und 374 Millionen Euro verbrannte, wieder einigermaßen auf stabile Füße gestellt. Keine Versprechungen mehr vom Big City Club, der bald die Champions League gewinnt, sondern eine Hertha für alle - egal woher. Er hatte die Vision, dass der Fußball den Menschen gehören sollte.
Für die Hertha bedeutete das einen Abschied von den teuren Transfers, weg von den schier endlosen schlechten Nachrichten, weg von den ständigen Peinlichkeiten. Bernstein wusste, dass der Weg lang war. In Porträts wurde er immer wieder mit dem Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck verglichen. Der Realpolitiker, der so manche Kröte schlucken musste. Bei Bernstein waren es mit der US-Firma 777 ein neuer Investor und der Wettanbieter auf dem Trikot.
Dennoch: Unter seiner kurzen Ära kamen viele alte Bekannte zurück. Pal Dardai, Andreas "Zecke" Neuendorf, Sportdirektor Benny Weber. Bernstein nannte das den "Berliner Weg". Die Klubikonen setzten seine Vision mit um: Die jungen Spieler sollten den Klub nicht mehr vor ihrer Profikarriere verlassen, sondern in der Hertha ihre Zukunft sehen. So, wie es früher einmal war. Ein wenig hat das schon geklappt. Die Blau-Weißen überwinterten mit einer jungen, spannenden Mannschaft nach einem schwierigen Start in der zweiten Liga sechs Punkte von den Aufstiegsrängen entfernt. Endlich war nach den turbulenten Jahren so etwas wie Ruhe eingekehrt. Ein Augenblick zum Durchatmen.
Irgendwie Normalität
Dann kam Bernsteins Tod. Das gesamte Klubumfeld ist nach wie vor erschüttert. Auch wegen der zweiten, der familiären Tragik, die viele auf dem Olympiagelände bewegt. Der 43-Jährige hatte erst im vorherigen Jahr geheiratet, er baute gerade ein Haus am östlichen Stadtrand. Er starb am Geburtstag der älteren seiner beiden Töchter. Viele können das nicht fassen.
Doch es muss weitergehen, irgendwie: Am Sonntag startet Hertha gegen Fortuna Düsseldorf in die Rückrunde, an diesem Mittwoch trainiert die Profi-Mannschaft erstmals wieder öffentlich, die Pressekonferenzen wurden dagegen abgesagt. Der Klub entschied sich, es öffentlich zu belassen, um den Fans einen Raum zum Trauern zu geben - ein paar Dutzend taten das.
Das Team betritt nach und nach ab 14 Uhr den Platz. Erst Weber und Trainer Dardai, dann der Rest. Ihr Haupt ist gesenkt, keiner sagt mehr als zwei Worte, sie sind alle in sich gekehrt. Diejenigen, die sich äußern wollten, haben das bereits in den sozialen Medien gemacht. Kapitän Toni Leistner gab dem gestorbenen Präsidenten ein letztes Versprechen. Der Weg solle so weitergegangen werden. Flügelstürmer Fabian Reese, der selbst binnen kürzester Zeit zu einer Identifikationsfigur geworden war, tat es ihm gleich. Publikumsliebling Nader Jindaoui bedankte sich bei Bernstein, dass er an ihn glaubte, "als viele mich abgeschrieben haben".
"Es gibt nur einen Kay Bernstein"
Und während auf dem Feld versucht wird, so etwas wie Normalität zu erzeugen, stehen hinter dem Tor die beiden Hertha-Fans Max und Sven. Beide haben sich dort erst kennengelernt und schildern, wie sehr sie der Tod des Präsidenten schockiert hat, so wie er den ganzen deutschen Fußball schockiert hat. Sven erzählt erst später, auf dem Rückweg, dass er im Schock beinahe den Geburtstag seines besten Freundes vergessen hätte. Auch Max kann die Nachricht noch nicht realisieren. "Es gibt nur einen Kay Bernstein", sagt er. So einen wie ihn werde es nie wieder geben.
Aber wie geht es weiter? Übergangsweise führt Vize-Präsident Fabian Drescher die Geschäfte der Hertha. Ob er bis zu den turnusmäßigen Neuwahlen im Oktober bleibt oder es auf der Mitgliederversammlung im Frühjahr vorgezogene Neuwahlen gibt, ist unklar. Weiter handlungsfähig ist das Präsidium, die Zahl an Mitgliedern ist ausreichend. Ob es jemals wieder einen unscheinbaren Anzugträger geben kann? Die beiden Fans bezweifeln das.
Max, vielleicht 30 Jahre alt, ist erst seit wenigen Jahren Anhänger der Blau-Weißen. Er lebte lange in Los Angeles, erzählt er. In der turbulenten Windhorst-Zeit kam er nach Berlin und zur Hertha. Er wohnt nur zehn Minuten mit dem Rad entfernt, das öffentliche Training schaut er regelmäßig. So viele wie heute seien noch nie dagewesen, erzählt er. "Normalerweise sind es ein, zwei Leute." Der 23 Jahre alte Sven hat dagegen die klassische Hertha-Sozialisierung: Mit vier hat ihn sein Vater mit ins Berliner Westend gebracht, seither ist er geblieben.
Der letzte Traum
Beide philosophieren darüber, was Bernstein in seinen nur anderthalb Jahren Amtszeit schon erreicht hat. Zum Beispiel, dass Sven, der diesen Klub nun schon fast 20 Jahre verfolgt, im vergangenen Jahr endlich Mitglied geworden ist. Er fühle seither eine Verbindung, die er vorher so nicht gekannt habe, sagt er. Damit ist er nicht der Einzige: Die Berliner erlebten zuletzt trotz des sportlichen Abstiegs einen Boom bei den Mitgliedern und auch den verkauften Dauerkarten.
Beide erzählen auch von diesem einen letzten Traum, den sie mit Bernstein teilten. Seit 1985 findet das Finale des DFB-Pokals in Berlin statt. Seither hat es nur eine einzige Hertha-Mannschaft ins Endspiel geschafft: die von Fans liebevoll genannten "Hertha Bubis". 1993 verlor die zweite Mannschaft gegen Bayer Leverkusen das Finale. Ein Team voller junger Talente, die überwiegend aus Berlin kamen - so wie die Mannschaft in dieser Saison. Der Triumph im heimischen Olympiastadion - es wäre die vorläufige Krönung von Bernsteins "Berliner Weg".
Diesen müssen sie jetzt ohne ihn gehen. Ohne Kay Bernstein. Nicht nur durch den kalten Januarschnee.
Quelle: ntv.de