Wie eine eingeschlagene Fresse Eine Bruchbude namens Vicente Calderón
28.04.2016, 17:34 Uhr
Bruchbude ohne Dach, aber mit viel Charme: Das Estadio Vincente Calderón.
(Foto: REUTERS)
Plötzlich ist es da, das Estadio Vicente Calerdón. Dreckig, alt, kaputt - legendär. Die Heimat von Atlético Madrid gilt als die größte Bruchbude im europäischen Spitzenfußball, aber auch als die stimmungsvollste - noch.
Kai Hawaii, der Sänger der Deutschrocker von Extrabreit, hat einmal über seine Heimatstadt Hagen geschrieben, sie habe den Charme einer eingeschlagenen Fresse. Das klingt wahrlich nicht nett, war aber irgendwie als Kompliment gemeint. Und unweigerlich muss ich an diesen Satz denken, als ich plötzlich, mitten in einem Wohnviertel, vor dem Estadio Vicente Calderón im Süden von Madrid stehe. Groß, steil, schäbig, aber irgendwie auch zauberhaft schön. Vieles erzählen sich die Menschen über den mystischen Ort, der nach Vicente Calderon benannt ist, dem erfolgreichen und mittlerweile verstorbenen Präsidenten des Klubs. Und es ist gut, wenn man vorher etwas genauer zuhört. Denn das Calderón übertrifft in der Realität alles, was da so verbal verhandelt wird.
Die Flutlichter, sie baumeln irgendwie noch so an einer verrosteten Stahlkonstruktion. Einige Eingänge befinden sich direkt ohne Leitplanke an einer mehrspurigen Schnellstraße. Das Fundament ist brüchig, meterlange Risse sind keine Seltenheit. Pflanzen wachsen auf den Tribünenaufgängen, als würde es das irgendwie besser machen. Stünde hier irgendwo ein Schild: Bitte nicht betreten, akut einsturzgefährdet - niemand würde widersprechen. Aber hier steht kein Schild, hier stehen an den Eingängen Tausende rot-weiß gekleidete Anhänger der Rojiblancos, die Anhänger Atlético Madrids. Jene Protagonisten, die diese Bruchbude mit Leben und unbändiger Leidenschaft füllen. Die mit ihrem sonoren, so schön klingenden "Atlétiiii, Atlétiiii" für 90 Minuten Gänsehaut sorgen. Die jede Aktion ihrer Helden auf dem Rasen zu einem Feiertag erklären.
Ein Fußballspiel im Estadio ist etwas ganz Besonderes, Spezielles. Hier schnalzen sie nicht mit der Zunge, wenn, was eher selten vorkommt, die Spieler einen Hackentrick, einen Tunnel, einen Übersteiger anbieten. Hier ballen sie die Faust, schreien, applaudieren, tanzen, kurzum: Die Fans feiern jede gelungenen Aktion der Rot-Weißen. Und das sind unter der Regie des anarchischen Trainers Diego Simeone vor allem leidenschaftliche Verteidigungsmomente. So wie jener in Halbzeit zwei am Mittwochabend, als Außenverteidiger Juanfran im Champions-League-Halbfinalduell mit dem FC Bayern (0:1 aus Sicht der Bayern) einen fast verloren geglaubten Ball nicht zur Ecke austrudeln lässt, sondern ihn mit letzter Kraft noch irgendwie über die Seitenlinie bugsiert. Das Estadio tobt, wie andernorts nach einem Tor.
Ein unausgesprochener Deal
Für einen Ortsunkundigen ist das nicht weniger als total beeindruckend. Denn die beschriebene Rettungsaktion von Juanfran ist nur eine von 10, 20, 30 vergleichbaren - in einem jeden gottverdammten Spiel. Bei Atlético wird auf dem Rasen vor allem gearbeitet und auf der Tribüne zelebriert, immer laut, immer leidenschaftlich. Das ist offenbar ein unausgesprochener Deal zwischen Mannschaft und Fans.
Nun wäre es indes ziemlich unfair, den Erfolg der Simeone-Elf nur aufs Laufen, Kämpfen und Grätschen zu reduzieren. Die Mannschaft kann auch richtig gut Fußball spielen - schnörkellos-schön, nicht super-super-spektakulär Und so gibt es sie natürlich auch hier im Estadio Vicente Calderón, diese in Barcelona und beim verhassten Ortsrivalen Real in hoher Frequenz dargebotenen feinen Fußballmomente, in denen das ganze Stadion vor Freude raunzt, vor Anerkennung staunt. Sie sind allerdings eher selten.
Einen dieser exklusiven Schmankerl-Momente behielt sich Spaniens U21-Nationalspieler Saul Niguez gegen den FC Bayern vor, als er in der elften Minute gleich vier Guardiola-Schützlinge ausfummelte, um dann zum spielentscheidenden Treffer einzunetzen. Das Stadion, der totalen Eskalation nah. Küsse, Umarmungen, Tänze, wildes Geschrei. Es ist laut, verdammt laut. Dann, plötzlich und ohne Ankündigung hüpft das ganze Stadion. Das fühlt sich, nun, sagen wir ein wenig unseriös an. Und man bekommt einen kleinen Eindruck, warum Atlético eigentlich dringend ein neues Stadion braucht. Das übrigens wird bereits gebaut. Eine Arena, charmant, freundlich, modern entsteht. Eigentlich sollte sie bereits in diesem Jahr eröffnen. Nun wohl eher 2017, vielleicht auch erst 2018. Einen Namen hat sie noch nicht. Lasst euch Zeit, möchte man den Rojiblancos gerne sagen. Genießt was ihr habt. Diese charmante Bruchbude, sie wird Europas Fußball fehlen.
Quelle: ntv.de