
Die erste Niederlage in dieser Saison ist eine deftige für Bayer Leverkusen, und das auf gleich mehreren Ebenen. Es ist das Finale der Europa League, das Ergebnis ist eindeutig - und Atalanta Bergamo gelingt, was lange niemand mehr geschafft hat.
Bayer Leverkusen hätte noch stundenlang weiterspielen können, ohne dass sich etwas am Ausgang der Partie geändert hätte. Da machen sich auch die Protagonisten dieses Europa-League-Finals keine Illusionen. "Sie waren heute besser", sagt Trainer Xabi Alonso nach dem leistungsgerechten 0:3 (0:2) seiner Elf gegen Atalanta Bergamo und muss feststellen: "Leider ist unser Plan nicht aufgegangen."
Atalanta vollbringt, woran bislang alle Bayer-Gegner in dieser Saison gescheitert sind: Sie dämmen die Magie der Werkself ein, stören deren Zauber empfindlich. Und dürfen so nach beeindruckenden 90 Minuten den ersten internationalen Titel ihrer Geschichte feiern. Leverkusen dagegen begibt sich auf Ursachenforschung, wieso es im 52. Pflichtspiel dieser Saison erstmals eine Niederlage gibt. Wieso die Aura der (scheinbaren) Unbesiegbarkeit, die die Werkself seit Monaten umweht hatte, so plötzlich verflogen ist.
Denn fast vom Anpfiff weg dominiert Bergamo das Geschehen. Mit viel Leidenschaft und noch mehr Laufbereitschaft reißt der vermeintliche Außenseiter das Spiel schon in der Anfangsphase an sich. Behält diese Kontrolle dank seiner Zweikampfstärke und der dafür notwendigen robusten Aggressivität. Und gibt sie bis zum Schlusspfiff nicht mehr aus der Hand. "Heute ist es extrem bitter", sagt Robert Andrich, "aber wir müssen ehrlich zu uns sein: Heute war es verdient."
Alonso: "Heute hat uns vieles gefehlt"
Dabei ist theoretisch alles bereitet für den nächsten großen Fußballabend von und mit Bayer Leverkusen. Im siebten K.-o.-Spiel dieser Europa-League liegt die Alonso-Elf zum fünften Mal zurück, doch anders als gegen Qarabag Agdam (Achtelfinal-Hin- und Rückspiel), West Ham United (Viertelfinal-Rückspiel) und die AS Rom (Halbfinal-Rückspiel) bleibt das Comeback aus, das bislang immer mindestens ein Remis gerettet hat. "Schade, dass es im Finale nicht geklappt hat", sagt Kapitän Granit Xhaka, während Alonso zusammenfasst: "Heute hat uns vieles gefehlt."
Beim 0:1 durch Bergamos Ademola Lookman in der 12. Minute etwa fehlt Weltmeister Exequiel Palacios die Aufmerksamkeit, den in seinem Rücken einlaufenden Atalanta-Stürmer zu sehen und am Torabschluss zu hindern. Beim 0:2 in der 26. Minute, wieder durch Lookman, ist es die Kombination aus einem Abschlag von Torwart Matej Kovar, einer unsauberen Ballannahme von Amine Adli und verlorenen Duellen im Mittelfeld, die dem nigerianischen Nationalspieler eine hervorragende Schussposition knapp vor der Strafraumgrenze eröffnet.
Kaum ein Leverkusener erreicht an diesem Abend in Dublin seine Normalform. Überall schleichen sich Fehler ein. Beim Stoppen des Balls, im Aufbauspiel, im Kopfballduell oder im klassischen Zweikampf am Boden. "Man ist es von ihnen nicht gewohnt", sagte RTL-Experte Lothar Matthäus zurecht, "aber solche Tage hat man." Der langjährige Profifußballer führt weiter aus: "Sie haben das Spiel von der ersten Sekunde an beherrscht und Bayer Leverkusen hat nie ein Mittel gegen die aggressive und gut organisierte Abwehr von Atalanta gefunden."
Leverkusen fehlt, was sonst immer da war
Xhaka und Palacios gelingt es im Zentrum überhaupt nicht, das Tempo oder gar den Gegner zu kontrollieren. Florian Wirtz läuft und müht sich viel, scheint aber schon nach 35 Minuten so entnervt, dass er sich wegen Meckerns eine Gelbe Karte abholt. Seine Nebenleute Amine Adli und Alejandro Grimaldo entwickeln keinerlei Durchschlagskraft, der technisch so starke Spanier vergibt gleich zweimal sogar kläglich aus aussichtsreicher Position.
Leverkusen kommt kaum in die gegnerische Hälfte und Alonso reagiert früh: Er schickt Victor Boniface zum Warmmachen, um nach dem Seitenwechsel umzustellen. Der bullige Stoßstürmer soll die Bälle halten und verteilen, was aber nur mit mäßigem Erfolg gelingt.
"Aber jetzt den Fehler im taktischen Bereich zu suchen, ist falsch", analysiert Matthäus und liegt damit wohl richtig: Die ungewöhnliche Häufung individueller Fehlleistungen liegt nicht an der Aufstellung, nicht an den Anweisungen von der Seitenlinie. Dass diese Probleme auf fast allen Positionen auftauchen, unterstreicht, dass es vor allem der Gegner zu sein scheint, der diese erzwingt. "Sie haben uns in vielen Bereichen den Schneid abgekauft", sagt Geschäftsführer Simon Rolfes und führt aus: "Wir sind nicht ins Spiel gekommen, hatten zu wenig Tempo und haben die freien Leute nicht gefunden, um einen Rhythmus aufzubauen."
Und so fehlt Leverkusen das, was sie die ganze Saison über ausgezeichnet hat. Die zahlreichen späten Tore, mit denen Siege und Unentschieden errungen sowie Niederlagen abgewendet werden, scheinen diesmal außer Reichweite. Alonso wechselt zwar mehrfach, bringt nach Boniface mit Patrik Schick noch einen zweiten Strafraumstürmer, doch Torgefahr entwickeln beide nicht. Die Flügelverteidiger Grimaldo (links) und Jeremie Frimpong (rechts) müssen vorzeitig vom Platz, weil sie anders als so oft in dieser Saison an diesem Mittwochabend nicht annähernd in die Nähe der Grundlinie kommen.
Fans stimmen "Wir fahren nach Berlin" an
"Sie waren in allem besser und sie verdienen es", muss Alonso anerkennen, spätestens nach dem 0:3 durch Lookman in der 75. Minute ist die Partie für Atalanta Bergamo entschieden. Ein Aufbäumen Leverkusens in den letzten Minuten, wie es seit Monaten immer wieder passiert, bleibt aus. "Vielleicht waren sie müde von der Meisterfeier, vielleicht waren sie nervös vor einem europäischen Endspiel", wundert sich Matthäus: "Ich habe keine Erklärung für einen solchen Leistungsabfall gegenüber der ganzen Saison."
Die Fans im Leverkusener Block scheinen derweil nach dem Abpfiff eben jene ganze Saison im Blick zu haben. Denn in die Enttäuschung über das verlorene Finale mischt sich rasch auch Stolz darüber, dieses überhaupt erreicht zu haben. Dankbarkeit, eine solche Reise durch den Europapokal erleben zu dürfen. Pfiffe sind überhaupt nicht zu vernehmen, stattdessen "Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin"-Sprechchöre. Denn allzu viel Zeit bleibt Alonso & Co. nicht, sich wegen der ersten Saisonniederlage zu grämen. Sonst beeinträchtigt der Ärger noch die Vorbereitung aufs letzte Saisonspiel. Und wem eine solche Kombination gelingt, der kann insgesamt nicht allzu falsch viel gemacht haben.
Quelle: ntv.de