"Im Prinzip egal"-Sieg Löw sorglos, Götze spaltet - Müller müllert
08.09.2014, 04:57 Uhr
"Verblüffen kann der Thomas mich jetzt nicht mehr", war die Meinung des Bundestrainers über den inoffiziellen Spielgewinner Müller.
(Foto: REUTERS)
Knapp, verdient und bisweilen munter siegen Deutschlands Fußballer gegen Schottland und starten erfolgreich in die EM-Qualifikation. Mehr will der Bundestrainer gar nicht. Ansonsten verlässt er sich auf sein Improvisationstalent.
Lässig war das nicht, wie die deutschen Fußballer in die EM-Qualifikation gestartet sind - im guten wie im nicht ganz so guten Sinne. Gut war, dass sie ihre Aufgabe ernst genommen und Schottland am Sonntagabend vor 60.209 Zuschauern im nicht ausverkauften Dortmunder Westfalenstadion mit 2:1 (1:0) besiegt haben. Nicht ganz so gut war, dass das eine doch relativ zähe Angelegenheit war. Und so bilanzierte Torhüter Manuel Neuer: "Wir haben unsere Pflichtaufgabe erfüllt. Wie wir es gemacht haben, ist im Prinzip egal." So spricht ein Weltmeister, der ausgezogen ist, um in Frankreich Europameister zu werden.
Tore: 1:0 Müller (18.), 1:1 Anya (66.), 2:1 Müller (70.) Deutschland: Neuer - Rudy, Höwedes, Boateng, Durm - Kramer, Kroos - Müller, Reus (90.+2 Ginter), Schürrle (83. Podolski) - Götze
Schottland: Marshall - Hutton, Hanley, R. Martin, Whittaker - D. Fletcher (58. McArthur), Mulgrew - Anya, Morrison, Bannan (58. S. Fletcher) - Naismith (82. Maloney)
Schiedsrichter: Moen (Norwegen)
Zuschauer in Dortmund: 60.209
Das will auch Joachim Löw. Schließlich war es der Bundestrainer, der das Finale am 10. Juli 2016 in Paris schon vor dem 2:4 gegen Argentinien am Mittwoch als Ziel ausgegeben hatte - wie es sich für einen Weltmeister gehört. Und mit dem knappen, aber verdienten Sieg gegen Schottland war er zufrieden, absolut sogar. "Das war meine einzige Erwartung heute an die Mannschaft." Er räumte zwar ein: "In der Defensive sind wir in der zweiten Halbzeit etwas geschwommen und haben ein bisschen die Kontrolle über das Spiel verloren." Aber Sorgen macht er sich deswegen nicht.
Auch, weil er weiß, dass jetzt Ruhe im Karton ist. Die nächsten Qualifikationspartien stehen am 11. Oktober in Warschau gegen Polen und drei Tage später in Gelsenkirchen gegen Irland an. "Im Oktober werden die Spieler auch wieder frischer sein." Und überhaupt: "Wir müssen wahrscheinlich immer ein bisschen improvisieren in den nächsten Monaten. Aber wir werden das schon hinkriegen, wenn’s drauf ankommt." Wie, das scheint auch dem Bundestrainer im Prinzip erst einmal egal zu sein. Die deutschen Spieler in der Einzelkritik:
Manuel Neuer: Auch auf die Gefahr hin, dass das jedes Mal an dieser Stelle steht: Aber der 28 Jahre alte Torhüter des FC Bayern war auch beim Tor der Schotten machtlos. Will heißen: Er hat auch in seinem 54. Länderspiel nichts falsch gemacht, dafür jede Menge richtig. Zum Beispiel, als er drei Minuten vor der Pause in Erinnerung an selige WM-Zeiten weit vor seinem Tor als Manu der Libero auftrat, erst mit einer Grätsche rettete und dann noch einen viel versprechenden Angriff einleitete. Nicht nur in Algerien wissen sie, was gemeint ist. Hinterher sagte der Aushilfskapitän: "Es war das Wichtigste, dass wir mit drei Punkten in die Qualifikation starten." Alles andere, wir hatten es erwähnt, ist ihm im Prinzip egal.

Abgesehen von einem folgenreichen Schnitzer gegen Ikechi Anya (l.) zeigte Sebastian Rudy ein ansehnliches Debüt in der deutschen Startelf.
(Foto: REUTERS)
Sebastian Rudy: Der 24 Jahre alte Hoffenheimer wurde in seinem dritten Länderspiel anstelle des Dortmunders Kevin Großkreutz zum Außendienst am rechte Ende der Viererabwehrkette eingeteilt. Fazit: Große Überraschung, prima Leistung, ist er doch im defensiven Mittelfeld zu Hause. Löw behauptete zwar, Rudy habe durchaus schon als Rechtsverteidiger gespielt, doch es verdichten sich die Anzeichen, dass der Bundestrainer in diesem Fall sein Wissen exklusiv hat. Sei’s drum, hat geklappt, die artfremde Verwendung hat somit Perspektive. Zumal sich Rudy einen Punkt als Vorlagengeber verdiente, weil er nach 18 Minuten den Ball auf den Kollegen Müller flankte. Nicht ganz so glücklich sah es aus, wie der schottische Linksaußen Ikechi Anya ihn überlief, bevor er den Ausgleich erzielte, der aber, das wissen wir mittlerweile, nur fünf Minuten Bestand hatte.
Benedikt Höwedes: Bei der Niederlage gegen Argentinien agierte der Schalker noch neben Matthias Ginter in der Abwehrzentrale. Nun, in seinem 30. Länderspiel, durfte er neben dem Kollegen Boateng spielen - was der Innenverteidigung wesentlich mehr Stabilität verlieh. Der einzig benennbare Fehler des 26-Jährigen bestand darin, dass er beim Ausgleich der Schotten im falschen Moment auf Abseits spielte und sich zu spät für den einen Schritt nach vorne entschied. Hatte ansonsten Mittelstürmer Steven Naismith gut im Griff, besonders, wenn sich beide mit den Köpfen um den Ball duellierten. Nur einmal, nach 51 Minuten, tanzte Naismith ihn famos aus, vergab aber die erste große Chance der Schotten.
Jérôme Boateng: Der 26-jährige Münchner verlieh, von seiner Knie-Entzündung genesen, im 47. Länderspiel der Innenverteidigung nach den vier Gegentoren Argentiniens wieder mehr Stabilität. Mit seiner Souveränität, seinem guten Stellungsspiel, seiner Stärke im Zweikampf und seiner Ballsicherheit. Aber das hatten wir ja schon. Sehr schön die Szene, als er nach 54. Minute nach Art der coolen Sau einen Angriff der Schotten abfing, indem er den Ball mit dem rechten Fuß hinter seinem linken Bein her spielte. Nur einmal, zwei Minuten nach der Pause, ließ er sich von einem gewissen Naismith im eigenen Strafraum ausspielen.
Erik Durm: Der 22 Jahre alte Dortmunder wurde in seinem dritten Länderspiel trotz eines etwas unglücklichen Spiels gegen Argentinien erwartungsgemäß erneut zum Außendienst am linken Ende der Viererabwehrkette eingeteilt. Weltmeister ist er ja schon, wichtiger aber dürfte für ihn sein, dass er auf dieser Position ein Mann mit Perspektive ist. Bei der WM hatte er keine Minute gespielt, weil der Schalker Höwedes in Brasilien durchgehend als linker Verteidiger spielte. Die Zeiten sind vorbei. Durm machte seine Sache ordentlich, was allerdings auch daran lag, dass Angel di María kein Schotte ist. Und ein wenig Glück hatte er, als er nach 72 Minuten und einem Foul an diesem Naismith nur die Gelbe Karte sah. Er braucht noch Zeit, um sich zu entwickeln. Es spricht viel dafür, dass Löw ihm diese Zeit gibt.
Christoph Kramer: Die gute Nachricht ist: Der Mönchengladbacher kann sich an sein siebtes Länderspiel ganz genau erinnern: "Es war ein ganz unangenehmer Gegner, von daher sind die drei Punkte enorm wichtig. Das zählt!" Hinterließ auf der Doppelsechs neben dem Kollegen Kross einen soliden Eindruck, rannte viel wie eh und je, wirkt aber nach wie vor etwas umständlich, wenn es darum geht, den Ball einfach mal aufs Tor zu schießen. Das Erstaunliche ist eigentlich, dass sich niemand mehr wundert, dass der 23 Jahre alte Kramer in der Startelf steht. Das spricht definitiv für ihn und seine Aussichten in dieser Mannschaft.
Toni Kroos: Der Neu-Madrilene hatte ja schon vor seinem 53. Länderspiel geahnt, dass es gegen Schottland nicht einfach werden würde. Nicht, weil die Gäste 5000 äußerst gut gelaunte Fans mit nach Dortmund gebracht hatten, die nach der Niederlage einfach weiterfeierten und von denen einige in der Restauration neben dem Stadion zu Neil Diamonds "Sweet Caroline" auf den Tischen tanzten. Das hat Kroos nämlich überhaupt nicht mitbekommen. Nein, der 24-Jährige hatte sich vielmehr um die Motivation seiner Mannschaft gesorgt. "Wenn Du vor 50 Tagen Weltmeister geworden bist, ist es einfach schwer, wieder richtig reinzukommen." Hinterher gab er zu Protokoll: "Wir sind nicht umsonst Weltmeister geworden. Um die Zukunft müssen wir uns keine Sorgen machen." Scheint ihn irgendwie zu beschäftigen. Auf dem Rasen war ihm das allerdings nicht anzumerken. Vielmehr war er sich nicht zu schade, sich immer wieder zwischen die beiden Innenverteidiger zurückfallen zu lassen, um aus zentraler Position das Spiel der DFB-Elf zu lenken. Was ihm gut gelang. Er hatte wieder einmal die meisten Ballkontakte aller auf dem Rasen - 127 an der Zahl.

Der sonst sehr solide spielende Pechvogel Marco Reus zog sich kurz vor Spielende erneut eine Verletzung zu.
(Foto: picture alliance / dpa)
Thomas Müller: Der Bundestrainer hat sich festgelegt: "Verblüffen kann der Thomas mich jetzt nicht mehr." Also auch nicht, wenn der 24 Jahre alte Münchner in seinem 58. Länderspiele mit dem Hinterkopf ein Tor nach Art des Uwe Seeler erzielt. "Da wollte ich einfach hin, hatte ein bisschen Glück und es sah gut aus." Schottlands Trainer Gordon Strachan hingegen zeigte sich beeindruckt. "Wenn du einen Spieler hast wie Müller, der 2,50 Meter hoch springen kann wie eine Maschine, ist das Gegentor nicht vermeidbar." Und weil dieser Thomas Müller nach 70 Minuten noch ein Tor in Abstaubermanier nach Art des Gerd Müller erzielte, sein 24. für die DFB-Elf, darf er sich mit dem inoffiziellen Titel des Spielgewinners schmücken. Überflüssig zu erwähnen, dass er auf dem rechten Flügel die erste Wahl ist. "Wir haben es leider verpasst, das Ergebnis höher zu schrauben und dann wird es gegen so eine Mannschaft schwer. Ich kann mit dem Ergebnis sehr gut leben und ich hoffe, die Zuschauer auch."
Marco Reus: Noch ist nicht klar, was er hat. Der Bundestrainer gab hinterher seiner Hoffnung Ausdruck, dass es "nicht ganz so schlimm" sei wie beim letzten Mal. Fest steht, dass der 25-jährige Dortmunder sein 23. Länderspiel Sekunden vor dem Abpfiff beenden musste, weil er sich im Zweikampf mit Charlie Mulgrew am linken Knöchel verletzt hatte. Das bis gestern letzte Mal war das Testspiel vor der Weltmeisterschaft gegen Armenien in Mainz. Da wurde Reus so schwer getroffen, dass er die Weltmeisterschaft in Brasilien verpasste. Nun soll eine Kernspintomographie am heutigen Montag nähere Erkenntnisse bringen. Bis zu seiner Auswechslung - für ihn kam der 20 Jahre alte Dortmunder Matthias Ginter in die Partie und zu seinem vierten Länderspiel - hatte Reus seine Sache in der Mittelfeldzentrale ordentlich gemacht. Eigentlich ist er auf einem guten Weg, an seine glänzende Form aus der Zeit vor der WM anzuknüpfen, auch wenn seinen Torschüssen ein wenig die Genauigkeit fehlte und Schottlands Torhüter David Marshall dreimal parieren konnte.
André Schürrle: Der 23 Jahre alte Flügelstürmer des FC Chelsea hat sich in seinem 41. Länderspiel redlich bemüht, meist auf der linken Seite, bisweilen in der Mitte, und er bleibt für immer der WM-Endspieltorvorlagengeber. Vergab allerdings sechs Minuten nach der Pause die große Chance auf ein Tor. Oder wie es Löw formulierte: "Wir haben es versäumt, das entscheidende 2:0 zu machen." Auch auf die Gefahr hin, dass das jedes Mal hier steht, wenn Schürrle sich in der Startelf wiederfindet: Irgendwie drängt sich der Verdacht auf, dass er weiter mit dem Ruf leben muss, der ideale Joker zu sein. Für die letzten Minuten kam der 29 Jahre alte Lukas Podolski vom FC Arsenal für ihn in die Partie. Und wurde in seinem 118. Länderspiel wie mittlerweile üblich mit Sprechchören gefeiert. "Das war ein großer Kampf. Aber wir müssen weiterhin mit breiter Brust auftreten. Wir sind Weltmeister."
Mario Götze: Der 22-jährige Münchner, der einst den BVB verließ, spaltete in seinem 37. Länderspiel die Massen auf der Südtribüne. Dabei hatte Dortmunds nicht eingesetzter Kevin Großkreutz vor dem Spiel noch über die Videoleinwände an die Fans appelliert: "Hej, zeigt der ganzen Welt, dass wir in Dortmund die besten Fans haben und hier in unserem Tempel kein Weltmeister ausgepfiffen wird." Hej, hat nur bedingt geklappt. Wenn die einen Götze auspfiffen, feuerten die anderen ihn an. Oder umgekehrt. Zumindest in der zweiten Halbzeit war das so. Götze selbst war für Mario Gomez auf die Stelle des vordersten Angreifers gerückt, fiel meist nicht auf und hätte kurz vor Schluss beinahe das 3:1 erzielt. Verlor den Ball, den die Schotten auf einen schnellen Konter mitnahmen, den Ikechi Anya vollendete, indem er das 1:1 erzielte. Hej, war in Ordnung. Keine große Sache. WM-Endspieltorschütze bleibt er für immer und ewig. Da können sie in Dortmund machen, was sie wollen.
Quelle: ntv.de