Auf DFB-Albtraum folgt Höhenflug Supertrainer Flick feiert in Barcelona seine Wiedergeburt
22.10.2024, 19:12 Uhr
Hansi Flick ist zurück.
(Foto: IMAGO/Pressinphoto)
Die Entscheidung des FC Barcelona, Hansi Flick als neuen Cheftrainer zu verpflichten, sorgte zumindest in Deutschland für Verwunderung, hatte doch das Ansehen aufgrund der verkorksten Zeit mit der Nationalmannschaft erheblich gelitten. Aber die Katalanen haben wohl alles richtig gemacht.
Jupp Heynckes sprach dieser Tage davon, dass Hansi Flick in Barcelona einen positiven Eindruck hinterlassen würde. Die Arbeit des 59-Jährigen scheint also auch Experten hierzulande zu beeindrucken. Daran hat bestimmt vor einem Jahr noch keiner geglaubt. Am 10. September 2023 wurde Flick von seiner Funktion als Bundestrainer entbunden, nachdem die DFB-Auswahl mit 1:4 in einem Testspiel gegen Japan verlor. Zuvor hatte Flick mit der Nationalmannschaft eine Bruchlandung bei der WM in Katar hingelegt. Die amazon-Doku "All or Nothing", die Einblicke in die fehlgeschlagene WM-Kampagne Flicks gab, tat ihr Übriges, um die Reputation des Champions-League-Siegers von 2020 gehörig zu beschädigen.
Flick wirkte plötzlich nicht mehr wie der Starflüsterer, als der einstmals während seiner Erfolgszeit bei Bayern München galt. Doch im Herbst 2024 sieht die Welt wieder ganz anders aus. Von seinen spanischen Kontaktleuten habe Heynckes erfahren, "dass sich Hansi durch seine Art und sein Auftreten großen Respekt verschafft hat", sagte der Ex-Trainer dem "Kicker". Zudem passt es sportlich. Der FC Barcelona führt die Tabelle von La Liga an. Bislang gab es lediglich eine Niederlage - ein wildes 2:4 in Osasuna.
Ansonsten hat Barça alle anderen Partien gewonnen. Und nebenbei reift eine neue Generation von La-Masia-Absolventen heran. Die berühmte Jugendakademie von Barcelona hat über die Jahre schon viele hochgepriesene Talente hervorgebracht, aber zuletzt konnten einige die Erwartungen nicht erfüllen. Einer von ihnen, nämlich Ansu Fati, ist gerade erst von einem Leihjahr im englischen Brighton zurückgekehrt und steht nun wieder im Barça-Kader.
Katalanische Wurzeln freigelegt
Der mit Abstand bekannteste La-Masia-Absolvent in Flicks Team ist natürlich Lamine Yamal, der spektakuläre Dribbler, der auch während der EM im Sommer die Fans in Deutschland verzückte. Doch neben ihm gibt es mit Pedri, Gavi, Fermín López, Marc Casadó, Marc Bernal, Héctor Fort, Alejandro Balde und Pau Cubarsí noch weitere Eigengewächse. Von diesem Oktett haben eigentlich alle das Potenzial, eine große Karriere hinzulegen. Pedri und Gavi erhielten in den vergangenen Jahren bereits den "Golden Boy", die Auszeichnung für den besten Jungspieler Europas. Mit dem 17-jährigen Cubarsí besitzt Barça zudem den womöglich kommenden Abwehr-Superstar im Fußball.
Flick wird in Barcelona nicht nur für die starken Resultate in dieser Saison gelobt, die zu einem gewissen Teil auch auf den Leistungen von erfahreneren Spielern wie Robert Lewandowski und Raphinha beruhen, sondern auch für die Integration und stetige Weiterentwicklung der Talente aus dem Barça-Stall. Für einen chronisch verschuldeten Klub ist es umso wichtiger, dass diese Spieler keine Ablösesummen gekostet haben und für die Fans die katalanischen Wurzeln Barças repräsentieren. Immerhin ist der Klub eine wichtige Institution in der politisch semi-autonomen Region.
Reminiszenz an glorreiche Zeiten
Fußballerisch wiederum erinnert Flicks Team auch mehr und mehr an die glorreichen Zeiten in den 2010ern. Wenngleich der 59-Jährige nun kein Schüler Pep Guardiolas ist, so kommt er dem Fußball Guardiolas näher als beispielsweise der frühere Spielgestalter Xavi, der noch in der Vorsaison an der Seitenlinie stand. Konkret heißt das: Barcelona hat in der Regel um die 65 Prozent Ballbesitz und treibt die Spielgestaltung über die aufrückende Viererabwehr voran. Zumeist beteiligen sich die beiden Innenverteidiger sowie Rechtsverteidiger Jules Koundé an der Spieleröffnung. Von dort aus gelangt der Ball zu Pedri, dem Ankerpunkt in Flicks Formation.
Aufgrund der technischen Fertigkeiten eines Pedri oder auch des gerade nach einem Kreuzbandriss zurückgekehrten Gavi kann Barça den Ball oftmals auch zwischen enggestaffelten Linien des Gegners vorantreiben. In dieser Hinsicht sind die Ähnlichkeiten zur spanischen Nationalmannschaft sehr offensichtlich. Selbst das aggressivste Pressing läuft Gefahr, von Barcelona immer wieder ausgehebelt zu werden.
Zudem müssen die Gegner ein Stück weit auf die taktischen Umformungen von Flicks Team achten. Da etwa die rechte Außenbahn mit Koundé, Yamal und Raphinha nach der ersten Phase des Spielaufbaus überladen wird, ist eine gegnerische Verteidigung mehr oder weniger dazu gezwungen, Spieler dort hinzuschieben. Eigentlich gehört Yamal allein in Doppeldeckung - durch die Unterstützung seiner Mitspieler ist er umso schwerer zu verteidigen.
Wiedersehen für Flick und Lewandowski
Aufgrund der taktischen Ausrichtung wird das Aufeinandertreffen mit dem FC Bayern in der Champions-League-Vorrunde am morgigen Mittwoch (21 Uhr/DAZN und im Liveticker auf ntv.de) umso interessanter. Denn Bayern unter Vincent Kompany, einem Bewunderer und Schüler Guardiolas, möchte ebenso den Ball kontrollieren und das Spiel gestalten. Im besten Fall entfacht ein intensiver Kampf um die Feld- und Ballhoheit im Mittelfeld, wo die Bayern wohl wieder auf Jamal Musiala zurückgreifen können und das erste Mal in dieser Saison so richtig auf die Pressingqualitäten von Neuzugang João Palhinha bauen werden.
Anfällig ist Barça vor allem dann, wenn nach Ballverlusten das eigene Gegenpressing nicht greift und die hohe Abwehrlinie rund um Cubarsí attackiert wird. Aufgrund des aggressiven Aufrückens der Verteidiger im Ballbesitz entsteht zuweilen ein 40 Meter langer verwaister Feldstreifen, in den beispielsweise Michael Olise und Serge Gnabry hineinsprinten könnten.
Abseits der taktischen Feinheiten dieses Gigantenduells in der Champions League wird sich natürlich viel um das Wiedersehen von Flick sowie Lewandowski mit den Bayern drehen. Der polnische Angreifer netzt auch im Alter von 36 Jahren noch regelmäßig und trifft auf seinen Nachfolger Harry Kane. Wenngleich der Abgang von Flick und Lewandowski aus München jeweils nicht ganz geräuschlos ablief, so floss kein böses Blut. Flick mag als Bundestrainer weniger als die Hälfte seiner Spiele gewonnen haben, aber seine zwei Jahre in Diensten des FC Bayern waren in großen Teilen erfolgreich.
Im Frühjahr 2021 entschied sich Flick schlussendlich dazu, seine Tätigkeit zu beenden, da er die Chance erhielt, seinen Traumjob, nämlich jenen des Bundestrainers, zu übernehmen. Aus dem Traum wurde recht schnell ein Albtraum. Dass Flick drei Jahre später der bejubelte Dompteur des großen FC Barcelonas werden würde, wirkt wie ein überraschender Twist in der Karriere des Kurpfälzers.
Quelle: ntv.de