Debatte zulassen, nicht abwürgen Thomas Müller offenbart heikles Paradoxon
14.06.2020, 12:58 Uhr
Thomas Müller spricht etwas an, das dringend zu diskutieren ist. Stattdessen werden ihm falsche Motive unterstellt, wenn er das Fußball-Paradoxon zwischen Gehaltsverzicht und Mega-Ablösen aufzeichnet. Und es wird ihm angeraten, sich künftig intern zu äußern. Absurd!
Wer Thomas Müller unterstellt, dass er Angst um seinen Stammplatz hat, der irrt. Wenn er das Paradoxon zwischen Gehaltsverzicht und Mega-Ablösen für Neuzugänge in Zeiten der Corona-Krise aufzeichnet, dann geht es um vieles, aber nicht darum, dass sich der 30-Jährige sorgt, nicht mehr regelmäßig zu spielen. Wer Thomas Müller nahelegt, dass er froh sein soll, wenn sich sein FC Bayern im Sommer so verstärkt, dass er in der kommenden Saison die Champions League gewinnt, der vermischt, was nicht vermischt gehört. Und wer über Müller sagt, dass er sich mit seinen Aussagen "verdribbelt" habe, der untersagt einem mündigen Profi das offene Wort, weil er eine heikle und unangenehme Diskussion offensichtlich nicht führen will.
All das ist passiert. Müllers Aussagen nach dem mühsamen Pokalerfolg gegen Eintracht Frankfurt wurden vor allem eines: kritisiert. So lang und ausdauernd, dass Müller am Sonntag in einer Videobotschaft noch einmal Stellung bezog - ein indes eher untauglicher Versuch seine Sätze in einen relativierenden Kontext zu setzen. Und unnötig obendrei. Denn seine Sätze gehören diskutiert und nicht abmoderiert. Auch wenn sie aus Sicht der Vereine - und damit auch aus Sicht von Münchens Sportdirektor Hasan Salihamidzic, der Müller gerügt hatte, sich mit seinem Vorstoß eben "verdribbelt" zu haben - eine womöglich intensive Debatte auslösen. Eine Debatte, die sich elementar gegen die eigene angestrebte Meinungskontrolle und Verschlossenheit gegenüber kontroversem und kritischem Austausch in und mit der Öffentlichkeit stellt.
Der Fußball bleibt in der Pflicht
Denn das, was Müller anspricht, ist halt paradox. Wie passt es denn zusammen, wenn die Spieler von ihren Klubs zu einem solidarischen Gehaltsverzicht gebeten werden - völlig zu Recht übrigens! -, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abzumildern, aber in Medien und Öffentlichkeit andererseits in der Sehnsucht nach neuem fußballerischem Luxus fortwährend über aberwitzige Ablösen diskutiert wird, ohne dass die Vereine solche Summen aufgrund der aktuellen Situation (oder auch eines grundsätzlichen Umdenkens) für illusorisch und unanständig erklären?
Beispielsweise die 100 Millionen für Kai Havertz, die Anstoß fürs Müllers Aussagen waren. Die Antwort lautet: Es passt nicht zusammen. Und da braucht jetzt auch niemand damit kommen, dass es nur medial gestreut wird, oder dass es für die Vereine ums Überleben geht. So ist es nämlich nicht. Ums Überleben der Klubs ging es, als der Fußball seine Lobbyarbeit zur Fortsetzung der Saison in der 1. und 2. Bundesliga betrieben hatte. Die üppigen Fernsehgelder retten womöglich tatsächlich den einen oder anderen Klub.
Der Fußball in Deutschland hat in den vergangenen Wochen sehr viel richtig gemacht. Die Sonderrolle, die er für sich in der Corona-Krise erarbeitet hat, wurde bis auf wenige Ausnahmen (Heiko Herrlich und ein paar Herthaner) sehr verantwortungsvoll behandelt. Beim Thema Rassismus wurde in beeindruckender Deutlichkeit Stellung bezogen - von den Spielern wie auch vom oft zurückhaltenden DFB, der sinnvolle Protestaktionen glücklicherweise unbestraft ließ. Bei der Gretchenfrage, ob der Fußball systemrelevant ist, kamen trotz der dominierenden wirtschaftlichen Interessen einige gute Argumente gegen die Kritiker zusammen - selbst wenn diese Frage nicht oder auch niemals abschließend und konsensuell beantwortet werden wird. Sprechen Sie mal mit Corona-geplagten Club-Betreibern und Kulturschaffenden!
Diskussion um die Anständigkeit
Und nun kommt eben die schwierige Diskussion nach der Anständigkeit (und daraus folgend natürlich eine über die Notwendigkeit). Die darf man dem "intelligenten", so Salihamidzic, Müller durchaus in den Subtext seiner Aussagen schreiben. Denn es ging ihm ja keineswegs darum, nicht aufs Geld zu verzichten oder aber konkrete Transfers des FC Bayern zu hinterfragen (ein Aspekt von Salihamidzic' Rüffel), als vielmehr um die Logik hinter dem Paradox. Womöglich auch nur die moralische. Und diese betrifft nicht nur den Klub aus München, sondern den Profifußball insgesamt und auch Medien und Öffentlichkeit.
Hatte der Fußball in den vergangenen Monaten nicht eine neue Demut angemahnt? Ja, so war es. Die Pandemie, so schien es, hatte das enthemmte Business überraschend geerdet. Wenn das nicht wieder einmal nur stumpfe Worthülsen für erfolgreiche Lobbyarbeit im Sinne eines dumpfen "Weiter so!" sein sollen, dann dürfen Denkanstöße wie von Thomas Müller nicht einfach mit fadenscheiniger Kritik jenseits der Sache abgewürgt werden. Die Diskussion muss geführt werden. Ebenso wie jene über Großkonzerne, die trotz Staatshilfen eine Dividende auszahlen wollen. Sonst droht der Fußball sein gerade erst hart erkämpftes soziales Kapital sofort wieder im Sumpf doppelter Maßstäbe zu versenken.
Quelle: ntv.de