Relegationsgipfel in Kiel Wolfsburg kämpft gegen die Peinlichkeit
21.05.2018, 15:57 Uhr
Rettungssanitäter Labbadia: Gekommen, um zu bleiben.
(Foto: dpa)
Der Abstieg des VfL Wolfsburg in die 2. Fußball-Bundesliga wäre ein Desaster: Mit seinem Luxuskader und dem wuchtigen Millionenetat ist der VW-Werksklub Relegationsgegner Holstein Kiel maximal überlegen. Allerdings nur abseits des Platzes.
Es waren 70 Minuten, die große Hoffnung machen. Und 20 Minuten, die große Sorgen bereiten. Wenn der VfL Wolfsburg im Rückspiel der Relegation zur 1. Fußball-Bundesliga am Abend (ab 20.30 Uhr im Liveticker bei n-tv.de und im Eurosport-Player) im stimmungsvollen Holstein-Stadion bei Zweitligst Kiel antritt, um den 3:1-Vorsprung aus dem Hinspiel zu verteidigen, kommt Wölfe-Coach Bruno Labbadia nicht umhin, seine Jungs noch einmal eindringlich vor der Kieler Offensiv-Power zu warnen. Die funktionierte im Hinspiel zwar nicht so gut, wie während der Saison mit 71 Toren an 34 Spieltagen, doch der späte Chancen-Wucher von Marvin Ducksch und Kollegen taugt für den VfL zwingend dazu, die Aufgabe genauso leidenschaftlich anzugehen, wie die ersten 70 Minuten am Donnerstag.

Origi zeigte im Hinspiel, was er drauf hat: Das hatte er zuvor erfolgreich versteckt.
(Foto: imago/Matthias Koch)
In denen sah der umstrittene Labbadia eine der besten Saisonleistungen der Wolfsburger. Das Spiel seiner Elf war leidenschaftlich, dynamisch, flexibel und effizient. Besonders der belgische Stürmer Divock Origi, der von seinem Nationaltrainer Roberto Martínez nicht in den WM-Kader berufen wurde, drehte groß auf. Und das, obwohl seine Bereitschaft sich für den Klub - den er im Sommer wohl zurück zu Stammverein FC Liverpool verlassen wird - nochmal richtig zu zerreißen, zuvor stark angezweifelt werden durfte. So hatte er noch eine Woche vor der Relegation in einem Fernseh-Interview zugegeben, noch nie etwas von einem Team namens Holstein Kiel gehört zu haben.
Eine Peinlichkeit. Eine die Labbadia aus den Köpfen seiner Spieler bekommen hat. Und die er nun auch im Rückspiel nicht zulassen will. Denn ein Abstieg der Wolfsburger gegen die Kieler wäre kaum etwas anders als peinlich. Der Kader ist immer noch besetzt mit Topspielern wie Daniel Didavi (er fehlt wohl verletzt), Yunus Malli oder Maximilian Arnold. Und so warnt der VfL-Coach seine Mannschaft vor einer "sehr steilen Etappe", die er erneut mit Mut angehen will: "Wir sind keine Mannschaft, die sich hinten reinstellt", sagte Labbadia dem Sportinformationsdienst. Die Ankündigungen aus dem Holstein-Lager, ein "Feuerwerk" bieten zu wollen, lassen ihn indes kalt. "Es ist verständlich, dass sie das tun wollen. Es wird aber an uns liegen, ob sie das Feuerwerk so abbrennen können."
Nur keinen Stress

Schafft Holstein Kiel gegen den VfL Wolfsburg doch noch das Aufstiegswunder?
Doch so markig die Worte aus beiden Lagern, so entspannt lief die Vorbereitung: Der VfL etwa verfolgte nach einem lockeren Samstagtraining die Übertragung von der Hochzeit von Prinz Harry; Holstein Kiels Coach Markus Anfang gab seinen Jungs nach einer ebenso lockeren Samstagseinheit bis Sonntagabend frei. Motto: Nur keinen Stress, nur keine Nervosität! So sagt er: "Wir müssen nichts anderes machen als sonst. Wir müssen rausgehen und unser Spiel durchbringen." Anfang kann sich nicht vorstellen, dass die Aufregung seine Profis aus dem Konzept bringen wird. "Warum sollen wir aufgeregt sein? Wir spielen zu Hause in der gewohnten Umgebung." Gewohnte Umgebung – das heißt für Kiel Wohnzimmeratmosphäre im für 12.000 Zuschauer ausgelegten Holstein-Stadion. Ein Kulturschock für den VfL? "Mit unseren Fans im Rücken und unseren Bedingungen, unseren Kabinen, unseren Abläufen - da müssen die sich auch erst einmal umgewöhnen. Hier gibt es keine Luxuskabinen", erklärte Innenverteidiger Dominik Schmidt.
Was Schmidt sagen will: Der Klassenunterschied ist gewaltig, vielleicht nicht unbedingt auf dem Platz, sicher aber bei den Themen Infrastruktur und Finanzen. Der Etat des Bundesligisten, der noch im April 2016 heftig darum bemüht war, Real Madrid im Viertelfinale aus der Champions League zu schießen, ist mit bis zu 70 Millionen Euro etwa elfmal größer als der des Zweitligisten.
Holstein Kiel: Kronholm – Herrmann, Schmidt, Czichos, van den Bergh – Peitz, Lewerenz, Drexler, Kinsombi, Schindler – Ducksch; Trainer: Anfang.
VfL Wolfsburg: Casteels – William, Knoche, Brooks, Uduokhai – Guilavogui, Arnold, Malli, Steffen, Brekalo – Origi; Trainer: Labbadia.
Schiedsrichter: Siebert (Berlin)
Stadion: Holstein-Stadion, Kiel
Der VfL, das ist zu einhundert Prozent eine Tochterfirma des Volkswagen-Konzerns. Eine Konstruktion, die die Fußballabteilung als großes Problem mit sich herumträgt - unabhängig vom Ausgang der Saison heute Abend. Denn zu sehr ist die Dauerkrise des Mutterkonzerns Volkswagen auch die Krise des Bundesliga-Klubs. Das hat die jüngste Katastrophen-Saison eindrucksvoll bewiesen. Viele Debatten werden derzeit an der Personalie Labbadia aufgehängt. Sportlich hat es der Trainer, dem der Ruf als Rettungssanitäter der Bundesliga vorauseilt, seit seiner Amtsübernahme im Februar nicht geschafft, seinem durchaus begabten Luxuskader so etwas wie eine Abstiegskampfmentalität einzuimpfen. Fairerweise müssen aber auch die Fans, die ihren Coach in den vergangenen Wochen mit Gesängen verhöhnten, zugeben: Labbadia hat den Kader nicht zusammengestellt und konnte bei Amtsübernahme auf dem Transfermarkt auch nicht mehr reagieren. Das wird sich im Sommer allerdings ändern.
Und so kündigte Labbadia dann auch schon vor dem ersten Relegationsduell mit Kiel an, in der kommenden Spielzeit weiter als Trainer des VfL wirken zu wollen. Egal, ob in Liga eins oder eine Klasse tiefer. Sein vielleicht aussagekräftigstes Motivationsschreiben lieferte der Ex-Profi nun aber am Donnerstagabend nach – ein Eignungsbeweis, den der ebenfalls neue Aufsichtsratschef Frank Witter aus der Autostadt erst noch liefern muss. Denn was bislang fehlt, ist eine (formulierte) klare Strategie für die künftige Ausrichtung des Klubs. Auch wenn Witter zuletzt bekräftigt hatte: "Am Ende des Tages gehen wir den Weg gemeinsam - und wenn es in die 2. Liga ist."
Der VfL spiegelt das Konzernchaos wider
Es scheint fast so, als habe dem Autokonzern in den vergangenen Jahren schlicht die Zeit gefehlt, sich mit seinem liebsten Spielzeug zu beschäftigen, heißt es im "Handelsblatt". Die Parallele zwischen dem Bekanntwerden der Dieselaffäre und dem Absturz des VfL ist augenscheinlich: Seit die Abgasaffäre die Volkswagen AG ins Wanken brachte, findet sich der Klub meist am unteren Ende der Tabelle wieder. "Da kriegen wir sicherlich zu Recht einige unangenehme Fragen gestellt", gestand auch Witter. Der VfL gehört, trotz des sportlichen Radikalabfalls, zu den finanziell am üppigsten ausgestatteten Klubs der Bundesliga. Wie unprofessionell er aufgestellt ist – das erstaunt immer wieder. Der VfL, er spiegelt das Führungschaos an der Spitze seines Mutterkonzerns fast 1:1 wider. Einen Sportchef? Den gibt es nicht, seit sich der Klub vom chronisch erfolglosen Olaf Rebbe befreit hat. Nun soll dem Vernehmen nach der ehemalige Kölner Jörg Schmadtke kommen, um das sportliche Führungschaos in den Griff zu kriegen.
Rebbe wird übrigens künftig als Chef des deutschen Trainers David Wagner bei Huddersfield Town agieren - dort tritt er sein Amt mit der Empfehlung an, die sportliche Krise der Wölfe mit seiner irritierenden Transferpolitik zusätzlich verschärft zu haben. Beispielsweise, als er im Winter Mario Gomez, den mit Abstand besten Torjäger, ohne Not zum VfB Stuttgart ziehen ließ. Die VfL-Geschäftsführung um Wolfgang Hotze, früherer Topmanager bei VW, konnte oder wollte das nicht verhindern. Was fehlt, ist die fußballerische Fachkompetenz, schreibt die "Zeit". Denn während der VfB sich fast noch für die Europa League qualifiziert hätte, muss der VfL Wolfsburg eben in Kiel zittern. Ein Irrsinn, zumindest in Anbetracht des sportlichen und finanziellen Potenzials des Autoklubs. Vielleicht ist das ja ein Gleichnis, das in Wolfsburg verstanden wird.
Quelle: ntv.de