Experimente in der Problemzone Zwei echte Überraschungen von Hansi Flick
08.09.2021, 12:11 Uhr
Den Rechtsverteidiger Joshua Kimmich wird es in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft nicht mehr geben. Zumindest so lange es Hansi Flick gibt. Für den Bundestrainer ist diese Entscheidung aber auch ein Problem. Er braucht gute Lösungen. Und eine ist besonders kreativ.
Eine Sache ist ja bereits klar: Wenn Deutschland am Abend in Reykjavik gegen Island um die nächsten Punkte in der WM-Qualifikation spielt (20.45 Uhr bei RTL und im Liveticker bei ntv.de), dann wird der Rechtsverteidiger des DFB-Teams nicht Joshua Kimmich heißen. Kleiner Scherz (!). Denn man weiß ja, dass Kimmich nur dann für den Außenposten infrage kommt, wenn der Bundestrainer Joachim Löw heißt. Nun hat sich die Lage in diesem Sommer so radikal verändert, wie seit 15 Jahren nicht. Löw ist weg. Hansi Flick hat übernommen. Der hat andere Pläne. Mit Kimmich. Und damit auch für die Sache mit dem Rechtsverteidiger. Die Sehnsucht des deutschen Fußball-Kollektivs erfüllt er indes (noch) nicht.
Bevor Löw seinen letzten Kader für Deutschland berufen hatte, war es zu Diskussionen gekommen. Nun ist das nicht ungewöhnlich. Nominierungen sind bekanntermaßen der schönste Gegenstand für den mal höflichen, mal hitzigen Meinungsaustausch. Eine Personalie, die in den Runden intensiv abgearbeitet wurde, war Ridle Baku. Der hatte in der vergangenen Saison beim VfL Wolfsburg sehr erstaunlich aufgespielt. Offiziell als Rechtsverteidiger. In Wahrheit, die liegt ja, wie man weiß, auf dem Platz, war der 23-Jährige aber eher so eine Art verteidigender Außenstürmer. Diesen Mann, so warf man sich in Expertenkreisen zu, muss Löw mitnehmen. Baku rechts, Kimmich im Zentrum - und fertig ist die Laube. Bedeutet: Alles bereitet für den Erfolg. Aber so kam es nicht. Baku fuhr nicht mit.
"Hat nichts mit seiner Leistung zu tun"
Und wer nun dachte, unter Flick wird alles anders, der wird nun überrascht. Denn Baku fährt (oder fuhr) auch nicht mit nach Island. Der U21-Europameister schaffte es nicht in den 23-köpfigen Kader. "Das hat aber nichts mit seiner Leistung zu tun", betonte Flick eilig. Die sei wie bei allen anderen auch gut gewesen. Dann sagte er wenig später aber auch, dass der Leistungsgedanke zähle. Nun ja.
Beim Debüt des Bundestrainers gegen Liechtenstein (2:0) stand Baku in der Startelf. Er war bemüht, aber in seinen Aktionen nicht immer glücklich. Während er defensiv nicht vor Herausforderungen gestellt wurde, war er offensiv überhastet. Nun, für einen jungen Mann, der noch recht neu im Kreis der Besten ist, dürfen durchaus mildernde Umstände gelten. Zumal der Rest der Mannschaft auch nicht sonderlich auffällig agierte. Dass er nun nicht mit in die isländische Hauptstadt geflogen ist, das heißt natürlich nichts für seinen weiteren Weg. Es heißt nur: Rechtsverteidiger-Frage ungeklärt.
Oder auch nicht? Erster Anwärter auf den Platz in der Startelf ist nun Mönchengladbachs offensive Allzweck-Waffe Jonas Hofmann. Klingt komisch, ist aber so. Flick probierte den 29-Jährigen, der im Sommer vom FC Bayern umworben gewesen sein soll, gegen Armenien (6:0) einfach mal aus und fand, dass es gut gewesen war. Im Verein hatte er diese Aufgabe auch schon mal, wenn auch nur selten ausgefüllt. Jonas Hofmann habe "absolut die Qualität" für diese Position, so Flick. Tatsächlich hat der Trainer ja durchaus ein Faible für umgeschulte Flügelläufer in der letzten Kette. Beim FC Bayern machte Flick aus dem Außenstürmer Alphonso Davies eines der spektakulärsten Talente in Europa. So halb. Denn genau genommen setzte ihn dort bereits Flick-Vorgänger Niko Kovac ein, aber der war nicht erfolgreich. Grundsätzlich.
Hofmann schielt auf überraschende Chance
Für Hofmann ist der Wechsel von vorne nach hinten eine völlig überraschende Chance, auf ein spätes Glück im DFB-Team. Ein anderes Glück hat er sich in dieser Rolle schon erfüllt. Gegen Armenien erzielte er im fünften Spiel für Deutschland seinen ersten Treffer. Per Direktabnahme aus gut 20 Metern nach einer verunglückten Ecke von Kimmich. "Das war ein Punkt, den ich unbedingt noch abhaken wollte in meiner Karriere", sagte er bei RTL und ergänzte: "Dass das so schnell gelingt, dann auch noch als Rechtsverteidiger, ist sensationell." Auf seine neue Rolle hat der 29-Jährige "total Bock", er könne sie sich gut "dauerhaft vorstellen". Und er lieferte gute Argumente. Nicht nur wegen des Treffers. Gegen Armenien gefiel er auch als aggressiver Zweikämpfer. Aber gut. Es war Armenien, nicht Frankreich oder Brasilien.
Die Sehnsucht nach einer Konstante auf der rechten Seite ist groß. Seit dem Rücktritt von Philipp Lahm nach dem WM-Titel 2014 in Brasilien herrscht auf dieser Position ein Mangel in der DFB-Elf. Weil Kimmich vom Außenposten ins Zentrum drängt, weil er dort noch mehr Qualitäten und Einfluss auf das Spiel hat. Außen fühlt er sich ja gelegentlich "auftragslos", wie er während der EM bekannt hatte. Löw war das egal. Ob Hofmann nun die Lösung der Probleme ist? Die Frage kann erst beantwortet werden, wenn es gegen die großen Nationen geht, wenn er richtig Stress bekommt. Er selbst sagt: "Das Defensive muss von Spiel zu Spiel kommen." Er hofft dabei weiter auf Unterstützung: "Da habe ich Jungs neben mir, die haben mich schon gut eingewiesen."
Großes Lob für Kehrer aus Paris
Hofmann im Jetzt. Baku für die Zukunft. So könnte es aussehen. Da ist aber auch immer noch Lukas Klostermann von RB Leipzig. Auch ein Mann, der sich in Pressing-System auskennt und für defensive Verlässlichkeit steht. Lediglich sein Drang nach vorne ist eher zurückhaltend. Gleiches galt lange auch für Thilo Kehrer. Der kann die Position rechts hinten ebenfalls spielen. Gegen Liechtenstein kam er als Innenverteidiger zum Einsatz. Gegen Armenien spielte er hinten links. Beide Male machte er seine Sache gut und sorgte mit klugen Zuspielen für einen sinnvollen Spielaufbau. Das Training bei Paris St. Germain, wo er regelmäßig von den Superstars Neymar, Kylian Mbappé, Angel di Maria und seit diesem Sommer auch von Lionel Messi gefordert wird, es zahlt sich eben aus. Trainer Mauricio Pochettino lobte Kehrer zuletzt: "Er hat wirklich große Fortschritte in puncto Stellungsspiel und Durchsetzungsvermögen gemacht. Außerdem wirkt er befreiter und souveräner."
Der Spieler selbst sieht es so: "Ich kann beide Positionen spielen und bin auch hinsichtlich des Systems flexibel", sagte er im Interview mit dem "Kicker". Er könne sowohl rechts in der Viererkette als auch auf der rechten Seite im 3-4-3 agieren. "Aber ich denke, mittelfristig kommen meine Stärken in der Innenverteidigung am besten zum Tragen." Dort ist die Hierarchie im DFB-Team längst nicht geklärt. Wenn Mats Hummels fit ist, dürfte der Dortmunder der Abwehrchef sein. Auch Antonio Rüdiger vom FC Chelsea hat beste Chancen auf die Stammrolle. Und Bayern Münchens Niklas Süle wirbt gerade sehr für sich. Auch der hat schon hinten rechts gespielt, unter dem Bundestrainer, im Verein. Aber unter Flick sortiert sich eben alles neu. Auch Kehrer, der zuletzt von Löw nicht mehr berufen worden war. Die Experimente gehen weiter. Vor allem rechts. Und dann wäre da noch Felix Passlack. Aber das ist eine andere Geschichte.
Quelle: ntv.de