"Collinas Erben" loben Assistenten Besserwisser-Zeitlupen und Adler-Grätschen
18.04.2016, 09:41 Uhr

Notbremse? Schiedsrichter Marco Fritz sagt ja und zeigt Hamburgs Torhüter René Adler die Rote Karte.
(Foto: imago/Moritz Müller)
Die Abseitsregel wird für Schiedsrichter und Assistenten immer komplexer - weil das Spiel schneller und die Erwartungshaltung an die Unparteiischen groß geworden ist. In Dortmund fliegt René Adler vom Platz - nach reiflicher Überlegung.
Im Grunde genommen ist die Sache mit dem Abseits ja ganz leicht: Der Fußballregel Nummer 11 zufolge befindet sich ein Spieler immer dann genau dort, "wenn er der gegnerischen Torlinie näher ist als der Ball und der vorletzte Gegenspieler". So kurz und bündig steht es dort, so simpel ist es also - zumindest vom Grundsatz her. Doch der Teufel steckt wie so oft im Detail. Denn entgegen einer weit verbreiteten Annahme ist es noch kein Vergehen, im Abseits zu stehen. Regelwidrig wird es vielmehr erst, wenn sich der betreffende Spieler im Augenblick, in dem der Ball von einem seiner Kollegen berührt oder gespielt wird, aktiv am Spiel beteiligt, indem er "eingreift", "einen Gegner beeinflusst" oder "aus seiner Position einen Vorteil zieht". Was genau darunter zu verstehen ist, wird im Regelwerk ausführlich in Wort und Bild erläutert - und ist dennoch durchaus kompliziert, zumal es von Zeit zu Zeit so mancher Änderung unterliegt.
Die Abseitsregel gehörte von Anfang an - das heißt: seit 1863 - zu den Fußballregeln. Ihre Einführung wurde zum einen damit begründet, dass es unfair sei, hinter dem Rücken des Gegners ein Tor zu erzielen. Zum anderen wollte man verhindern, dass sich ein Angreifer einfach in der Nähe des gegnerischen Tores platziert und dort auf den Ball wartet, um ihn dann problemlos einzuschieben. Allerdings unterschied sich die seinerzeitige Regel erheblich von ihrer heutigen Fassung: Damals stand ein Stürmer bereits im Abseits, wenn er sich im Moment des Zuspiels vor dem Ball aufhielt - die Zahl der Gegenspieler zwischen ihm und der Torlinie war unerheblich. Es waren also nur Pässe nach hinten gestattet, weshalb die Teams bis zu acht Angreifer aufboten, schließlich konnten sie sich dem gegnerischen Gehäuse ja nur durch Dribblings nähern. Ein flüssiges Spiel kam so natürlich kaum zustande. Deshalb wurde die Abseitsregel nach drei Jahren geändert: Nun befand sich ein Stürmer erst dann im Abseits, wenn er der Torlinie näher war als der Ball und der drittletzte Gegner. Pässe nach vorne waren jetzt möglich, das Spiel änderte sich dadurch komplett.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Seit 1907 gibt es kein Abseits in der eigenen Hälfte mehr, 1920 wurde das Abseits beim Einwurf aufgehoben, was vorher schon beim Abstoß und beim Eckstoß der Fall war. Seit 1925 ist nicht mehr der drittletzte Abwehrspieler (inklusive Torwart) maßgeblich, sondern der vorletzte, und seit 1990 heißt es: Gleiche Höhe - von Angreifer und vorletztem Gegenspieler - ist kein Abseits mehr. Was sich seitdem immer wieder ändert, ist die konkrete Auslegung der Abseitsregel, also die Interpretation dessen, was beispielsweise unter einer "Beeinflussung des Gegners" zu verstehen ist. Hier wurde die Regelpraxis in den vergangenen Jahren immer weiter zugunsten der Offensive modifiziert - die Zeiten, in denen die Assistenten schon die Fahne hoben (und die Schiedsrichter pfiffen), wenn der Ball nur in die Nähe eines im Abseits befindlichen Spielers gelangte, sind lange vorbei.
Realgeschwindigkeit versus "Besserwisser-Zeitlupe"
Heute ist die Abseitsbeurteilung für die Assistenten schwieriger als je zuvor: Die Auslegung der Abseitsregel ist erheblich komplexer geworden, das Spiel hat an Tempo enorm zugelegt, und wenn es um die Frage "Abseits oder nicht?" geht, entscheiden fast immer nur wenige Zentimeter. Oftmals geht es lediglich um eine Fußspitze, was in der Realgeschwindigkeit fast unmöglich einzuschätzen ist, insbesondere dann, wenn der vorletzte Abwehrspieler sich in der Nähe des Assistenten aufhält und der Stürmer an der gegenüberliegenden Seitenlinie. Als "Besserwisser-Zeitlupe" hat das "Sportstudio" des ZDF am Samstagabend in einem Anflug von Selbstironie die verlangsamte Wiederholung bezeichnet, mit der den Unparteiischen Fehler bei extrem knappen Abseitsentscheidungen nachgewiesen werden. So wie beim Spiel zwischen der TSG Hoffenheim und Hertha BSC, in dem der Hoffenheimer Fabian Schär bei seinem Ausgleichstor zum 1:1 hauchdünn im Abseits stand, während der Berliner Genki Haraguchi kurz zuvor frei vor dem Tor zurückgepfiffen wurde, weil der Assistent ihn im Abseits wähnte, was minimal nicht der Fall war.
Maßgeblich bei der Beurteilung, ob ein Angreifer der gegnerischen Torlinie beim Abspiel eines Mitspielers näher ist als der Ball und zwei Gegner, sind laut den Regeln auf beiden Seiten der Kopf, der Rumpf und die Füße, aber nicht die Arme – also alle Körperpartien, mit denen ein Tor regulär erzielt beziehungsweise verhindert werden kann (der Torwart wird in diesem Fall behandelt wie ein Feldspieler). Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass die Assistenten vor allem auf den Oberkörper der Spieler achten, denn dieser ist zumeist deutlich besser auszumachen und zu unterscheiden als Kopf, Beine und Füße. Das birgt die Gefahr von Fehlern. Hinzu kommt, dass schon eine (manchmal kaum zu vermeidende) geringfügig abweichende Positionierung des Assistenten - einen halben Meter vor oder hinter dem vorletzten Abwehrspieler - dessen Blickwinkel so verändern kann, dass er bei einer abseitsverdächtigen Situation die falsche Entscheidung trifft. Inzwischen erwartet die Öffentlichkeit von den Helfern an der Linie jedoch nicht weniger als Perfektion - weshalb jeder Irrtum im Zusammenhang mit dem Abseits, der auch nur ein bisschen deutlicher ist als eine Fußbreite, als "klare Fehlentscheidung" gerügt wird.
Rot für Adler: Pro und contra
Es mag paradox klingen, aber die Assistenten befördern diese Erwartungshaltung vermutlich sogar selbst - indem sie selbst in komplizierten Situationen meist richtig liegen. Und so geriet beispielsweise das Darmstädter Führungstor gegen den FC Ingolstadt durch Konstantin Rausch in der öffentlichen Wahrnehmung unversehens zum kapitalen Bock des Schiedsrichterteams, weil der Assistent im Vorfeld des Treffers zwei Abseitsstellungen nicht erkannt hatte, die gleichwohl immer noch die Bezeichnung knapp verdienen und sich auf dem Spielfeld weniger deutlich dargestellt haben dürften als im Fernsehen - wofür der unterbliebene Ingolstädter Protest als zusätzlicher Beleg gelten kann. Umgekehrt war es kaum der Rede wert, dass das 2:1 für Hoffenheim durch Mark Uth, das 3:1 für Werder Bremen gegen den VfL Wolfsburg durch Sambou Yatabaré und das 1:0 für den FC Bayern München gegen Schalke 04 durch Robert Lewandowski von den Schiedsrichtergespannen zu Recht als korrekt erzielte Treffer anerkannt wurden, obwohl es bei allen drei Toren einen starken Abseitsverdacht gab.
In Dortmund musste Schiedsrichter Marco Fritz derweil nach 52 Minuten die schwierige Frage beantworten, ob René Adler sich mit seinem Foul gegen Shinji Kagawa einer "Notbremse" schuldig gemacht hatte. Der Hamburger Torwart hatte den Japaner bei einem Konter der Gastgeber außerhalb des Strafraums abgeräumt, es waren allerdings noch zwei Hamburger Spieler mitgelaufen, die Kagawa möglicherweise, aber nicht mit Sicherheit am erfolgreichen Torschuss hätten hindern können. Nach eingehender Rücksprache mit seinem Assistenten entschied der Referee schließlich, dass hier eine offensichtliche Torchance verhindert wurde, und zeigte dem Keeper die Rote Karte. Eine sogenannte 50/50-Entscheidung, bei der sich Argumente sowohl für den Platzverweis als auch für eine Verwarnung finden ließen. Manchmal lässt sich eben nicht eindeutig sagen, wie eine Spielsituation ohne den regelwidrigen Eingriff ausgegangen wäre. Und dann sollte die Entscheidung des Schiedsrichters einfach akzeptiert werden.
Quelle: ntv.de