Collinas Erben

"Collinas Erben" schwärmen EM wird zum Fußballfest der Pfeifenden

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Die EM-Schiedsrichter wie Ovidiu Hategan zeigen ein starkes Turnier.

Die EM-Schiedsrichter wie Ovidiu Hategan zeigen ein starkes Turnier.

(Foto: REUTERS)

Gut? Nein, sehr gut! Das Schiedsrichter-Niveau bei der Fußball-EM begeistert die Experten. Auch der Deutsche Felix Brych überzeugt trotz Kritik aus Schweden voll und ganz. Das liegt an mehr Professionalität und sehr akribischer Vorbereitung.

Die 71. Minute lief, es stand 1:1, als sich Spanien gegen Kroatien plötzlich die Riesenchance auf die erneute Führung bot. Der Gruppensieg, das Vermeiden der Todeshälfte im Spielplan der Fußball-EM, es schien so nahe für den Europameister. Was war passiert? Andres Iniesta hatte den Ball in den kroatischen Strafraum gehoben, wo sich sein Mitspieler David Silva ein Laufduell mit Sime Vrsaljko lieferte. Der hinter dem Spanier positionierte Kroate hob beide Arme – wie um zu signalisieren: Ich bin unschuldig, ich tue nichts – und ging einen Sekundenbruchteil später zusammen mit Silva zu Boden. Ein Foul? Oder nur eine unglückliche Kollision? Schiedsrichter Björn Kuipers meinte ohne zu zögern: Ersteres. Er entschied umgehend auf Strafstoß und Gelb für Vrsaljko.

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Die Kroaten protestierten aufgebracht beim Unparteiischen, Dario Srna bedrängte den Referee so sehr, dass er ebenfalls verwarnt wurde. Das Team vom Balkan war auch deshalb so erzürnt, weil ihm Kuipers sieben Minuten zuvor einen Elfmeter verweigert hatte, als Marko Pjaca nach einem Zweikampf mit Sergio Ramos zu Fall gekommen war. Eben dieser Ramos trat nun vom Punkt an – und Danijel Subasic, der sich im Moment der Ausführung knapp zwei Meter vor der Torlinie befand, wehrte den Schuss ab. Tin Jedvaj, der den Strafraum etwas zu früh betreten hatte, konnte schließlich endgültig klären. Es gab keine Wiederholung des Strafstoßes, sondern einen Eckstoß.

Collinas Erben

"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.

Während Björn Kuipers im Stadion von Bordeaux heikle Momente zu überstehen hatte, saß John Balvers am heimischen Schreibtisch in Amersfoort bei Utrecht, ließ die Szenen vor- und zurücklaufen, schnitt sie zusammen, versah sie mit kurzen Einschätzungen und schickte sie danach sofort an den Unparteiischen. Balvers ist Videoanalyst des niederländischen Fußballverbands KNVB und während der Europameisterschaft dafür da, Kuipers' Spiele mit Bildmaterial vor- und nachzubereiten. Wenn man das Porträt über ihn liest, das der niederländische Journalist und Schiedsrichter Jan ter Harmsel auf seiner Webseite veröffentlicht hat, bekommt man eine Idee davon, dass das ein Full-Time-Job ist.

Akribische Vor- und Nachbereitung

Denn Kuipers wird nicht nur mit Spielszenen aus seinen eigenen Partien versorgt – übrigens bereits zur Halbzeitpause –, sondern auch mit Videos von Begegnungen der Mannschaften, die er zu pfeifen hat. Schließlich soll der 43-Jährige, der seit zehn Jahren auf der Fifa-Liste steht, wissen, mit wem er es zu tun bekommt: Welche Taktik bevorzugen die Teams? Was für Konsequenzen könnte das für die Spielleitung haben? Welche besonderen Eigenschaften zeichnen die Spieler aus, etwa hinsichtlich ihrer Spielweise oder ihrer Reaktionen auf Entscheidungen des Unparteiischen? Auf wen muss der Schiedsrichter besonders achten, worauf muss er gefasst sein? Welcher Art der Ansprache bedarf es jeweils?

Kuipers steht aber nicht nur ein Videoanalyst zur Verfügung, sondern auch ein eigener Coach: Jaap Uilenberg, Schiedsrichter-Beobachter für die Uefa und früher selbst Fifa-Referee, begleitet ihn in Frankreich, bereitet mit ihm auf der Grundlage von Balvers‘ Material die Spiele vor und arbeitet mit ihm nach den Partien dessen Spielleitung auf. In der Begegnung zwischen Kroatien und Spanien hatte der gewohnt souveräne Kuipers lange Zeit keinerlei Probleme, bis die beiden Strafraumszenen die Gemüter plötzlich in Wallung brachten.

Uilenberg und Kuipers werden das genau besprochen haben: War der Elfmeter für Spanien nicht zu hart, auch gemessen daran, dass die Kroaten sieben Minuten zuvor bei einem ähnlich leichten Kontakt keinen Strafstoß bekommen hatten? Hat Kuipers seine Entscheidungen gut "verkauft"? Hätte der Elfmeter wiederholt werden müssen, weil Subasic zu früh die Torlinie verlassen hatte und Jedvaj vorzeitig in den Strafraum eingedrungen war? Oder bewegte sich diese Entscheidung noch im Rahmen der Spielräume, die von den Unparteiischen bei der Strafstoßausführung gemeinhin gewährt werden und die allgemein akzeptiert sind?

Brych mit Weltklasse-Entscheidung

Auch wenn die wenigsten Referees, die bei der Europameisterschaft eingesetzt werden, Profi-Schiedsrichter sind, ist es gerade bei diesem Turnier unverkennbar, welche Fortschritte es in Bezug auf ihre Professionalität gibt. Die Unparteiischen bereiten sich nicht nur körperlich akribisch auf ihre Spiele vor, sondern auch mental. Wie sinnvoll und wichtig es dabei ist, auch die Taktik und Spielweise der Teams zu kennen, zeigt sich nicht zuletzt an Björn Kuipers: Als er die Partie zwischen Deutschland und Polen anpfiff, wusste er um die ausgeprägte Fähigkeit beider Mannschaften, nach Ballgewinnen blitzschnell umzuschalten und die Unordnung des Gegners auszunutzen.

Dass damit auf beiden Seiten eine erhöhte Wahrscheinlichkeit taktischer Fouls einherging, war ihm klar. Als es dann tatsächlich vermehrt zu solchen Vergehen kam, war er gewappnet und reagierte konsequent mit Gelben Karten. Auch damit hielt er die Begegnung im Rahmen, denn die Spieler akzeptierten Kuipers' Linie ohne Wenn und Aber.

Überhaupt gibt es bei dieser EM so wenig Kritik an den Schiedsrichtern wie schon lange nicht mehr. Der sehr gute Eindruck, den sie zu Beginn des Turniers hinterlassen haben, hat sich bestätigt, die Referees sind weiterhin nur selten ein Thema. In der gesamten Vorrunde mussten sie keine einzige glatt Rote Karte zeigen. Sie lassen ihre Spiele gekonnt laufen und pfeifen weder übertrieben kleinlich noch unangemessen großzügig, zudem liegen sie in Schlüsselszenen fast immer richtig.

So wie der deutsche Unparteiische Felix Brych: Das Handspiel des Walisers Ben Davies im Strafraum in der Partie gegen England als unabsichtlich einzustufen und deshalb keinen Strafstoß zu geben, entsprach voll und ganz sowohl den Direktiven der Uefa als auch dem Sinn und Geist der Regeln. Und wie Brych im Verbund mit seinen Assistenten erkannte, dass der englische Stürmer Jamie Vardy sich bei seinem Ausgleichstor zum 1:1 nicht im strafbaren Abseits befand, verdient gar das Prädikat "Weltklasse". Auch bei seinem zweiten Spiel überzeugte der Jurist aus München mit einem souveränen Auftreten, einer klaren Linie und vorzüglichem Teamwork.

Spielräume im Regelwerk

Streiten konnte man allerdings über seinen Entschluss, Zlatan Ibrahimovics Tor für Schweden gegen Belgien in der 63. Minute wegen eines vorangegangenen gefährlichen Spiels von Marcus Berg gegen Toby Alderweireld nicht zu geben. Berg hatte sein Bein relativ hoch genommen, Alderweireld seinen Kopf gleichzeitig recht tief gesenkt (was eine Selbstgefährdung darstellt, die laut Regeln ebenfalls nicht statthaft ist) – eine Situation, in der letztlich jede Maßnahme zu rechtfertigen gewesen wäre, vom Weiterspielen und der Anerkennung des folgenden Tores bis zum indirekten Freistoß für Belgien. Brych entschied sich für Letzteres, vielleicht auch deshalb, weil er in diesem Grenzfall reflexhaft dem Impuls folgte, den Kopf des Belgiers schützen zu sollen. Eine zwar diskutable, aber auch nachvollziehbare und vertretbare Entscheidung.

Es ist nun einmal so, dass die Regeln an vielen Stellen Spielräume zulassen, die unterschiedlich genutzt werden und für Differenzen sorgen können. So wie auch in der Partie Island - Ungarn, bei der sich in der Halbzeitpause der seit 2013 in Ungarn tätige Fußballtrainer Thomas Doll mit dem früheren Bundesliga-Schiedsrichter Jürgen Jansen in der ARD leidenschaftlich über den Elfmeterpfiff des russischen Referees Sergej Karasev zugunsten der Nordeuropäer stritt.

Der isländische Spieler Einar Gunnarsson habe in dieser Szene den Kontakt zu offensichtlich gesucht und sei bewusst auf den ungarischen Verteidiger Tamas Kadar aufgelaufen, meinte Doll. Jansen hingegen hielt die Entscheidung für vertretbar, weil der Kontakt von Kadar ausgegangen sei. Auch nach mehreren Zeitlupen wurden sich die beiden nicht einig. Doch so ist das eben, wenn es eine Grauzone gibt, der Unparteiische aber nur auf Schwarz oder Weiß erkennen kann: Irgendjemand ist immer unzufrieden. Bei der EM ist diese Unzufriedenheit mit den Schiedsrichtern bislang jedoch bemerkenswert gering.

Quelle: ntv.de

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