Redelings über den Videobeweis Warum der Fußball so nicht gerechter wird
19.09.2017, 12:21 Uhr
Auch neulich in Dortmund haben sie wieder diskutiert.
(Foto: imago/Thomas Bielefeld)
Der Videobeweis ist zum Scheitern verurteilt - auch wenn er sich wohl etablieren wird. Klingt schräg? Ist es auch. Unser Kolumnist geht aber noch einen Schritt weiter und fordert die Entmachtung der Schiedsrichter-Assistenten in Abseitsfragen.
Erinnern Sie sich noch an die Zeitstrafe in der Bundesliga? Damals in der Saison 1983/1984? Nicht? Na, das ist auch kein Wunder. Denn obwohl der Deutsche Fußball-Bund sie bereits beschlossen hatte, gab es sie am Ende nicht. Und das hatte gute Gründe. Der Platzverweis für zehn Minuten sollte damals die Zahl der Roten Karten begrenzen und den Schiedsrichtern mehr Handlungsmöglichkeiten geben. Auch darüber, wie die neue Strafe bekannt gemacht werden sollte, hatte man sich bereits Gedanken gemacht. Im DFB-Wortlaut: "Zusätzlich zur mündlichen Bekanntgabe gegenüber dem betroffenen Spieler hat ihn der Schiedsrichter durch Heben eines Armes und zweimaliges Ausstrecken der fünf Finger anzuzeigen."
Ben Redelings ist "Chronist des Fußballwahnsinns" (Manni Breuckmann) und leidenschaftlicher Anhänger des VfL Bochum. Der Autor, Filmemacher und Komödiant lebt in Bochum und pflegt sein Schatzkästchen mit Anekdoten. Seine kulturellen Abende "Scudetto" sind legendär. Für n-tv.de schreibt er stets dienstags die spannendsten und lustigsten Geschichten auf. Sein Motto ist sein größter Bucherfolg: "Ein Tor würde dem Spiel gut tun".
Da jedoch bereits die Abstimmung unter kuriosen Umständen unter den Klubpräsidenten stattgefunden hatte (sieben stimmten dafür, sechs dagegen, drei enthielten sich, einer war bei der Sitzung nicht anwesend, und Bielefelds Präsident Dr. Jörg auf der Heyde verließ kurz vor der Abstimmung den Raum; seine Begründung: "Ich musste mal ganz dringend aufs Örtchen") und sich gerade noch rechtzeitig wichtige Bedenkenträger wie der Mannschaftsarzt der Nationalmannschaft, Professor Heinrich Heß ("Ein erhitzter Spieler, der bei zehn Grad unter null aussetzt und dann wieder ins Spiel zurückkommt, riskiert Zerrungen und Risse der Muskeln"), öffentlich zu Wort meldeten, kassierte der DFB die Entscheidung noch vor Saisonbeginn wieder ein. Warum das im Nachhinein noch wichtig ist? Weil der Fußball heute erneut vor einer richtungsweisenden, das Spiel verändernden Entscheidung steht und genau wie damals sehr präzise auf das Thema schauen sollte.
Videobeweis zum Scheitern verurteilt
Reden wir nicht lange drum herum: Die (Fußball-)Welt ist seit Einführung des Videobeweises (gefühlt) kein Stück gerechter geworden. Auch der gewünschte Effekt, dass die Diskussionen über fragwürdige Entscheidungen weniger werden, hat sich nicht eingestellt. Beides wird auch nicht mehr passieren. Das muss man in aller Deutlichkeit so sagen. Und, um es ebenfalls mit Bestimmtheit auf den Punkt zu bringen: Das hätte jedem Offiziellen vorher klar sein müssen. Vielleicht war es das ja auch - aber das sind nur Mutmaßungen, die vom eigentlichen Dilemma ablenken. Der Videobeweis ist zum Scheitern verurteilt - auch wenn er sich etablieren wird. Doch das hat Gründe, die rein gar nix mit überprüfbaren Ergebnissen zu tun haben.
De facto gab und gibt es in Fußballpartien nur einen minimalen Prozentsatz an glasklaren Fehlentscheidungen - was übrigens auch vor der Testphase schon niemand von offizieller Seite anders gesehen hat. In der Regel handelt es sich um Auslegungsentscheidungen. Elfmeter ja oder nein, Rote Karte vielleicht oder eher nicht? Und genau die Häufung solcher Fälle bei den Videobeweisen bereitet die größten Probleme. Die ersten vier Spieltage der Bundesliga haben gezeigt, dass ein großer Prozentsatz der mit Hilfe des Videoschiedsrichters getroffenen Entscheidungen niemals so eindeutig war, dass alle sie kommentarlos akzeptiert haben. Das bedeutet im Umkehrschluss: Die Diskussionen werden weitergehen. Und warum? Weil alle nicht zu 100 Prozent klaren Entscheidungen genauso gut auch anders herum gefällt hätten werden können - es wäre auf dasselbe hinausgelaufen. Klingt kompliziert? Ist es auch. Und genau deshalb wird die Kritik am Videobeweis nicht leiser werden. Da kann man noch so sehr auf die "Kinderkrankheiten" innerhalb einer Testphase verweisen.
Aber wo wir schon bei den möglichen Fehlern des neuen Systems sind: Kaum jemand hat bisher die Rolle der Schiedsrichter-Assistenten bei Abseits-Entscheidungen hinterfragt. Doch das müsste dringend geschehen. Hebt der Assistent in einer fragwürdigen Situation die Fahne und unterbricht der Schiedsrichter daraufhin mit einem Pfiff das Spiel - so ist diese Situation kein Fall mehr für den Videoschiedsrichter. Ein Unding! Lässt er in einer fragwürdigen Situation das Spiel hingegen laufen und fällt ein Tor, kann der Videoschiedsrichter den Fall zu bewerten.
Die Rolle und der Einfluss der Assistenten im System des Videobeweises gehört bei Abseitsentscheidungen dringend hinterfragt. Wenn man nicht direkt einen Schritt weitergehen möchte und feststellt: Sie haben sich in Fragen - ob Abseits ja oder nein - komplett aus der Entscheidungsfindung herauszuhalten.
Die Macht in Zeiten eines Videobeweises, das Spiel zu unterbrechen und damit Situationen erst gar nicht zu einem Fall für eben diesen Videobeweis werden zu lassen, muss zwangsläufig beschnitten werden. Auch und gerade, weil diese Fälle im Augenblick noch nicht einmal öffentlich zur Diskussion stehen. Man darf gespannt sein, inwieweit der internationale Fußball und hierzulande der DFB und die DFL das Thema in den kommenden Wochen und Monaten behandeln werden. Eins steht jetzt schon fest: Wird der Fußball nicht für jeden Zuschauer spürbar gerechter, dann hat sich das Motiv für die Einführung dauerhaft erledigt.
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Quelle: ntv.de