Redelings über einen skurrilen Star Wie ein irrer Tritt Cantona zur Ikone machte
31.01.2017, 10:46 Uhr
Der Tritt der sein Leben veränderte: Eric Cantona am 25. Januar 1995.
(Foto: imago/Colorsport)
Ein Kung-Fu-Tritt ändert das Leben von Eric Cantona. Früher war er ein berühmter Fußballstar, heute ist er ein gefeierter Schauspieler. Vor genau 22 Jahren zeigte er einem Fan, dass man sich nicht jede Beleidigung gefallen lassen muss.
Eric Cantona ist weit mehr als nur ein ehemaliger Fußballspieler. Er ist eine Ikone. Ein Rebell. Ein Mann, dem man zuhört: "Ich merke, wie die Welt immer gleichförmiger wird. Alle müssen gleich sein. Ich mag Leute, die anders sind." Dass er selbstverständlich nicht wie alle anderen ist, konnte man schon sehen, als er noch bei Manchester United spielte. Sein Markenzeichen: der hochgeklappte Hemdkragen. Cantona lebt nach dem Motto: "Die Verrückten haben der Welt mehr gebracht als die Vernünftigen." Und unter seinem Trainer Alex Ferguson durfte der Franzose sein, wie er war. Als Einziger im Team hatte er alle Möglichkeiten, sich frei zu entfalten. Denn im Grunde war Ferguson ein Mann der klaren Prinzipien und Regeln mussten eingehalten werden. Nur für einen Spieler galt das nicht: für Cantona. Als die Mannschaft einmal im Rathaus von Manchester geehrt werden sollte, erschienen alle Teammitglieder in Anzug und Krawatte. Einzig der Franzose lief locker-flockig in Jogginghose und T-Shirt auf. Niemand wagte etwas zu sagen. Denn für Ferguson war offensichtlich alles in Ordnung.
Es hätte ewig so weitergehen können mit den beiden, doch dann kam dieser eine Moment, der alles verändern sollte. Eric Cantona hat später einmal gesagt: "Für mich ist es das Wichtigste, dass ich in diesem Augenblick nur ich selbst war." Der 25. Januar 1995 im Selhurst Park von Crystal Palace machte aus Cantona den Mann, der er heute ist. Das Foto von seinem Kung-Fu-Tritt mitten hinein in den Zuschauerblock, gerichtet auf den Palace-Fan Matthew Simmons, der ihn wild gestikulierend angepöbelt und aufs Übelste beleidigt hatte, ist zur "Legende" geworden. Ebenso krass wie die Tat an sich fielen auch die Reaktionen aus. Während das britische Revolverblatt "The Sun" die sofortige Ausweisung des Franzosen forderte, fand das ehemalige Mitglied der "Crazy Gang" des FC Wimbledon, John Fashanu, lobende Worte für Cantona: "Sehr gut gemacht, mein Sohn. Das wollte ich schon seit Jahren tun." Dem entgegen steht die wütende Reaktion der Trainerlegende Brian Clough. Er verurteilte die Tat aufs Schärfste und rief zur Gegengewalt auf: "Ich würde ihm die Eier abschneiden."
1966 war (k)ein gutes Jahr
Ben Redelings ist "Chronist des Fußballwahnsinns" (Manni Breuckmann) und leidenschaftlicher Anhänger des VfL Bochum. Der Autor, Filmemacher und Komödiant lebt in Bochum und pflegt sein Schatzkästchen mit Anekdoten. Seine kulturellen Abende "Scudetto" sind legendär. Für n-tv.de schreibt er stets dienstags die spannendsten und lustigsten Geschichten auf. Sein Motto ist sein größter Bucherfolg: "Ein Tor würde dem Spiel gut tun".
Kurz zuvor hatte der Ausrüster von Manchester United mit dem Spruch geworben: "1966 war ein gutes Jahr für den englischen Fußball. Eric wurde geboren". Nun reagierten die Fans des Lokalrivalen Manchester City mit einem T-Shirt, auf dem stand: "1995 war ein gutes Jahr für den englischen Fußball. Eric wurde gesperrt". Auch viele Jahre später hat Cantona seine Meinung zu diesem Tag und zu diesem ganz speziellen Augenblick nicht geändert. Er steht zu dem, was er damals getan hat. Er bereut nichts. Eher noch geht er sogar einen Schritt weiter, wenn er sagt: "Ach, ich habe ihn gar nicht hart genug getroffen. Ich hätte viel fester zutreten müssen."
Dieser eine Moment hat das Leben des Franzosen auf den Kopf gestellt. Vieles, was danach passierte, wäre ohne den Kung-Fu-Tritt nicht denkbar gewesen. Das Image des unangepassten Profis, des Rebellen, wurde in diesen Sekunden des 25. Januar 1995 manifestiert. Doch nicht nur für den Franzosen änderte sich nach jenem Abend so vieles. Auch für die Hausfrau Cathy Churchman und ihre beiden Kinder Steven und Laura sollten diese Augenblicke im Selhurst Park prägend sein. Die drei hatten direkt an der Stelle gesessen, an der Cantona auf den Schreihals traf, der von oben die Stufen hinuntergelaufen war. Cathys Mann, der beruflich mit Menschen aus der ganzen Welt zu tun hatte, bekam am Telefon gesagt, dass seine Frau aufgrund des Fotos mittlerweile berühmter sei als Prinzessin Diana.
"Mein Chef bringt mich um!"
Und dann gab es da noch den Mann, der neben Cathy und ihren beiden Kindern saß. Der damals 15-jährige Steven erinnert sich: "Wir hatten vorher noch mit dem Typen neben uns gescherzt, weil er trotz Krankenschein ins Stadion gegangen war. Nachdem die Sache mit Eric passiert ist, war er total aufgelöst. Er stammelte die ganze Zeit nur vor sich hin: 'Oh Gott, bitte lass die Szene nicht in 'Match of the Day' zu sehen sein. Mein Chef bringt mich um!'"
Am Tage seiner Verurteilung – er wurde für acht Monate vom Fußballverband gesperrt und entging nur knapp einem längeren Aufenthalt im Gefängnis – sorgte der Franzose erneut für Verwunderung. Sein Ausflug in die Poesie hörte sich damals so an: "Die Möwen folgen dem Fischkutter, weil sie glauben, dass die Sardinen wieder ins Meer geworfen werden." Lange wurde gerätselt, was Cantona seinen Zuhörern mit diesem Satz sagen wollte. Erst Jahre später löste der impulsive Star das Geheimnis auf: "Diese Worte hatten keinerlei ernst gemeinte Bedeutung. Die Situation war sehr angespannt und ich wollte diese Anspannung lösen. Ich wusste, dass alle sofort analysieren wollten, was ich gesagt hatte. Sie hätten an meiner Stelle stehen und das große Unverständnis in all den Gesichtern sehen sollen. Umwerfend!"
Das damals rund um den Kung-Fu-Tritt neu entdeckte künstlerische und schauspielerische Talent setzte Cantona nach dem Ende seiner Fußball-Karriere in vielen Filmen und Dokumentationen gekonnt in Szene. Höhepunkt dabei war 2009 der Film über das Leben des Eric Cantona als Ikone des britischen Filmregisseurs Ken Loach "Looking for Eric". Jüngere Zuschauer kennen Cantona spätestens seit der EM 2016, als er als "Commissioner of Football" meist oberkörperfrei im Internet über das laufende Turnier fabulierte. Auch über seinen eigenen Tod hinaus hat sich der extravagante Franzose schon so seine Gedanken gemacht: "Ich will keine Inschrift auf meinem Grabstein. Ich möchte ein etwas rätselhaftes Bild hinterlassen." Das hat Eric Cantona auch so, lange vor seinem Ableben, bereits geschafft! Geschadet hat der Tritt seiner Karriere jedenfalls nicht. Im Gegenteil. Aber es passt zu der bizarren Gestalt Eric Cantona.
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Quelle: ntv.de