Fußball-WM 2018

Zweischneidige WM in Brasilien "Atemberaubend - und viel Schminke"

"Tag des Kampfes gegen die WM": Demonstranten in Sao Paulo.

"Tag des Kampfes gegen die WM": Demonstranten in Sao Paulo.

(Foto: imago/Christian Franz Tragni)

n-tv.de: Eine Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien - was könnte besser passen? Doch die Menschen dort protestieren gegen soziale Ungerechtigkeit, die Medien berichten sehr viel über Kriminalität und Gewalt. Ärgert Sie das?

Andreas Wunn: Ich berichte über das, was ist. Das ist eine sehr interessante Situation. Und obwohl man in Brasilien diese Fußballstimmung noch überhaupt nicht spürt, wird sie kommen, wenn der Ball erst einmal rollt. Gleichzeitig haben wir diese unübersichtliche soziale Lage. Millionen haben im vergangenen Jahr während des Confed Cups gegen die drängendsten Probleme protestiert. Als kritischer Journalist finde ich gut, dass diese jetzt thematisiert werden. Davor habe ich mich gefragt: Warum sind die Brasilianer so unpolitisch? Warum demonstriert niemand? Nun kann ich auch über das Bildungssystem, die Korruption, das Gesundheitssystem berichten. Vorher hat sich in Deutschland niemand dafür interessiert.

Hat sich denn etwas getan seit dem Confed Cup?

Berichtet seit vier Jahren für das ZDF aus Brasilien: Andreas Wunn.

Berichtet seit vier Jahren für das ZDF aus Brasilien: Andreas Wunn.

(Foto: Heyne)

Im Großen und Ganzen nicht viel. Präsidentin Dilma Rousseff hat es nicht geschafft, überzeugend darzulegen, wie sie Brasilien aus dieser Krise, aus dieser Sinnkrise steuern will. Die Unzufriedenheit im Volk ist genauso da wie vor einem Jahr - gerade was das Bildungs- und Gesundheitssystem angeht. Der öffentliche Nahverkehr ist ein Ärgernis für Millionen von Menschen, die in Rio oder Sao Paulo jeden Tag mehrere Stunden zur Arbeit fahren müssen - und abends zurück. Es kam ja auch nicht von ungefähr, dass die großen Proteste während des Confed Cups nach der Erhöhung der Buspreise in Sao Paulo stattgefunden haben. Die Unzufriedenheit ist riesig. Aber die Protestbewegung ist ein bisschen eingeschlafen. Die große Frage ist, ob sie jetzt wieder aufflammt.

Und? Die WM ist doch eine gute Plattform. Oder gibt es da einen Widerstreit zwischen dem Ansinnen, ein guter Gastgeber zu sein und dem Zorn über Missstände?

Es gibt viele Brasilianer, natürlich die Regierung und auch der brasilianische Nationalcoach Felipe Scolari, die sagen: Das ist jetzt nicht die Zeit, so viel Chaos zu veranstalten, so viel zu demonstrieren. Lasst uns diese WM über die Bühne bringen. Lasst uns ein guter Gastgeber sein. Andere Brasilianer wehren sich genau dagegen, weil sie sagen: Das ist alles Schminke, alles nur schöner Schein. Wir präsentieren hier ein supertolles Brasilien, das es so gar nicht gibt. Das ist der große Konflikt, der gerade ausgetragen wird.

Wird es Proteste geben?

Es wird nicht diese millionenfachen Sozialproteste geben wie im vergangenen Jahr. Aber ich glaube schon, dass viele Gruppen die WM als Plattform nutzen möchten, noch einmal aktiv zu werden. Schließlich schaut die Welt auf Brasilien.

Das heißt konkret?

Es kann gut sein, dass es Ausschreitungen geben wird, eher punktuell in den großen Städten wie Rio de Janeiro, Sao Paulo und Brasilia. Es gab jüngst vor allem Proteste gegen die Polizeigewalt in den Armenvierteln. Die muss man von den Massenprotesten im vergangenen Jahr unterscheiden, als vor allem junge Menschen aus der Mittelschicht auf die Straßen gingen. In den Favelas kann jederzeit etwas passieren. Dort sterben immer wieder Unschuldige bei sehr rigorosen Polizeieinsätzen. Und da bedarf es nur eines kleinen Funkens, dass die Lage kippt. Allerdings: Das sind oft Viertel, in denen sich die WM-Besucher eher weniger aufhalten werden.

Sind die Vorgaben des Fußball-Weltverbandes Fifa ein Problem?

Absolut. Ich war bei der WM-Auslosung in der Nähe von Salvador da Bahia. Eine völlig absurde Fifa-Veranstaltung, irgendwo in einem Strandresort. Das hatte nichts mehr mit Volksnähe oder Fußballbegeisterung zu tun. Das war ein abgehobenes Mega-Event. Die Fifa diktiert den Gastgeberländern die Regeln, da werden sehr, sehr viele Kompromisse gemacht, auch auf Kosten der Bevölkerung. Oder zumindest auf Kosten der Staatskasse, in Brasilien auch ganz stark, was die Stadien betrifft. Und das IOC ist da keinen Deut besser, in zwei Jahren finden ja in Rio die Olympischen Sommerspiele statt. Nicht umsonst geht der Trend in Europa eher dazu, dass die Bevölkerung sagt: Wir wollen diese Mega-Events nicht.

Es ist ja stets die Frage, was so ein Turnier einem Land bringt. Könnte es nicht doch sein, dass Brasilien letztlich profitiert?

Viele Projekte wurden bisher nicht verwirklicht. Und die allermeisten wurden viel zu spät begonnen. Natürlich kann man sagen: Das ist eine positive Entwicklung, dass jetzt die Flughäfen renoviert werden. Nur: Die werden zur WM nicht fertig.

Aber die Bevölkerung könnte mittelfristig ja doch etwas davon haben …

Deshalb glaube ich, dass die positiven Effekte erst nach der WM, oder vielleicht erst nach Olympia sichtbar werden, wenn die Infrastrukturprojekte, die zum Teil Jahre im Verzug sind, endlich fertig werden. Und dass es auch der WM bedurfte, diese Projekte anzustoßen.

Bestimmt schon mal gesehen: Rio de Janeiro. Wer hinfährt, sollte ein wenig Zeit mitbringen.

Bestimmt schon mal gesehen: Rio de Janeiro. Wer hinfährt, sollte ein wenig Zeit mitbringen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Als Gast in Brasilien: Wenn ich in Rio lande und mir vorn ehme, in der ersten Stunde alles falsch zu machen, was ich falsch machen kann - womit fange ich an?

Erst einmal müssen Sie in den Süden der Stadt kommen, wo wahrscheinlich Ihr Hotel ist. Sie nehmen sich ein Taxi - und stehen vielleicht eine Stunde im Stau. Mit einem Fahrer, der zwar sehr freundlich ist, aber kein Wort Englisch spricht, noch nicht einmal links und rechts. Sie sind schon völlig gestresst, wenn Sie im Hotel ankommen. Und haben nicht eingeplant, dass Sie eine halbe Stunde zum Einchecken brauchen. Sie müssen in Brasilien viel Zeit und Geduld mitbringen. Und Sie müssen aufpassen, wo Sie wie hingehen.

Damit sind wir beim Thema Sicherheit.

Ich bekomme viel Besuch in Rio, dem sage ich immer: Du musst keine Angst haben auf der Straße, aber man sollte sein eigenes Radar nie abschalten. Man sollte sich genau überlegen, ob man nicht lieber seine protzige Uhr und seinen Schmuck im Hotel lässt. Ich überlege mir auch abends immer noch genau, ob ich eine Tasche mitnehmen muss. Besser ist es ohne.

Gibt es sonst noch Regeln, die WM-Besucher befolgen sollten?

Man sollte nicht im Dunkeln alleine am Wasser entlanggehen. An der Strandpromenade schon, da sind viele Menschen. Aber am Wasser sind Sie alleine. Und im Zweifelsfall hört Sie dort wegen der Brandung niemand. Nicht durch die Tunnel gehen. Es passiert meist nichts, aber wenn, dann oft in den Tunneln. Und wenn etwas passiert: Ruhe bewahren. Wenn Sie jemand überfällt, will der Ihr Handy und Ihr Geld; er will Ihnen aber nicht ans Leben. Man braucht keine Angst haben, aber so etwas kann passieren. Sie leben sicherer, wenn Sie sich nicht unnötig exponieren und so selbst zum Opfer machen.

Und kulturell und im zwischenmenschlichen Bereich?

Kein Handtuch mit an den Strand nehmen, das gehört zur Etikette - vor allem in Rio de Janeiro. Diejenigen, die dort Handtücher haben, sind die Touristen. Die Cariocas, die Einheimischen, machen das nicht. Ansonsten: Die Brasilianer sind in der Regel sehr freundliche Menschen, die Sie, wenn sie Sie kennenlernen, ausgiebig mit Schulterklopfen begrüßen. Und immer Daumen hoch, tudo bem, alles gut. Diese Zeremonie sollte man auch mitmachen und nicht als steifer Europäer in einem Abstand von 1,50 Meter kurz die Hand schütteln. Das kommt dann den meisten Brasilianern zu deutsch vor.

Zu den brasilianischen Fußballfans. Wie tolerant sind sie? Wenn ich mit einem Uruguaytrikot mit dem Namen des Torschützen von 1950 durch Rio laufe - auf was muss ich mich gefasst machen? Schließlich hat Alcides Ghiggia mit seinem Tor zum 2:1 das Maracana zum Schweigen gebracht - und die Brasilianer um ihren WM-Titel.

Gute Frage. Das könnte an Provokation vielleicht ein bisschen zu weit gehen. Da verstehen selbst die Brasilianer keinen Spaß mehr. Wenn Sie das Trikot ihres Heimatvereins tragen oder das deutsche, ist das die gesunde Konkurrenz. Das respektiert der Brasilianer. Er teilt mit Ihnen ja die Begeisterung für den Fußball. Es gibt Neckereien und Provokationen, die Sie über sich ergehen lassen müssen - alles freundschaftlich, ironisch. Aber mit dem Trikot des Torschützen von 1950 zum 2:1 von Uruguay - das würde ich keinem empfehlen.

Also der deutsche Fan, der durch die Stadt schlendert, kann sich auf Schulterklopfen und ein Fußballgespräch freuen?

Klar, das lieben die Brasilianer. Das ist ein absolut verbindendes Element. Das werden viele WM-Besucher erleben, diese Offenheit und Fußballbegeisterung. Sie begegnen sich, kommen ins Gespräch und haben gleich ein gemeinsames Thema. Völlig unkompliziert. Das macht diese ganz besondere brasilianische Lebensart aus.

Postkartentauglich: Strand in Recife. Hier tritt die deutsche Mannschaft am 26. Juni in ihrem dritten Gruppenspiel gegen die USA an - allerdings im Stadion.

Postkartentauglich: Strand in Recife. Hier tritt die deutsche Mannschaft am 26. Juni in ihrem dritten Gruppenspiel gegen die USA an - allerdings im Stadion.

(Foto: picture alliance / dpa)

Was erwartet die Besucher in den drei Vorrunden-S pielorten der DFB-Elf sonst noch, in Salvador, Fortaleza und Recife?

Die drei Städte liegen an der Küste im Nordosten des Landes. Für die deutsche Mannschaft und die Fans keine schlechte Wahl. Es ist zwar heiß, aber alles eine Klimazone. Und kulturell sehr interessant. Der Besucher wird in Salvador da Bahia mit seinen 2,7 Millionen Einwohnern ein völlig anderes Brasilien kennenlernen als in Rio oder Sao Paulo. In Salvador ist der afrikanische Einfluss sehr stark, anders als in Rio oder im Süden, wo überwiegend Weiße leben. Salvador hat eine unglaublich spannende Geschichte und eine wunderschön sanierte Altstadt. Und alle drei Spielorte haben wunderschöne, nahezu paradiesische Strände.

Ein Postkartenidyll?

Dort haben sie die Kokospalmen am Strand, weißen Sand und lauwarmes Wasser. Alle Klischees, die sie immer schon mal sehen wollten, finden sie da. Und all die negativen Aspekte Brasiliens auch. Der Nordosten gehört zu den ärmeren Landesteilen, alles dort ist ein wenig heruntergekommener als im Süden. Fortaleza und Salvador haben eine noch höhere Kriminalität als Rio. Was mit den noch größeren sozialen Problemen zu tun hat. Dort muss man abends wirklich aufpassen, wo man hingeht. Wie immer in Brasilien: Es ist beides.

Sie beschreiben in Ihrem Buch auch die Gefühlswelt der Brasilianer, mit ihrer Lebensfreude und ihrer Emotionalität. Inwieweit sind Sie da infiziert worden?

Ich bin mit einer Brasilianerin zusammen, ich muss mit dieser Emotionalität leben (lacht). Ich finde es eindrucksvoll, wie ernst Brasilianer es nehmen, wenn sie Fußball spielen. Wüsteste Beschimpfungen, wenn jemand einen Fehler macht. Und am Ende ist natürlich alles wieder gut. Die Emotionalität in Brasilien ist auch im Alltag viel stärker als in Deutschland. Das hat Vor- und Nachteile. Wenn man damit nicht umgehen kann - man muss nicht alles toll finden, sollte es aber wissen - dann tut man sich in Brasilien schwer. Und ich tue mich manchmal schwer, weil alles emotional bewertet wird, in der Beziehung, im Beruf. Ich habe zu meinem Buch gerade viele Interviews gegeben, meist kommen die Deutschen schnell zur Sache. In Brasilien, da interviewe ich, muss man erst ein Ambiente schaffen, sich anfreunden. Das ist wichtig als Grundlage für eine gute berufliche Beziehung. Aber ich finde das sympathisch und habe mich arrangiert.

(Foto: Heyne)

Auch dem dehnbaren Zeitbegriff? Sie waren ja a uf die Minute pünktlich.

In Rio frage ich manchmal Freunde, wenn ich eingeladen bin: Sagen wir deutsche Zeit oder Rio-Zeit? Aber in der Tat kostet mich das immer noch Nerven, wenn wir Interviewtermine ausmachen und dann stundenlang warten müssen.

Sie schreiben, die Brasilianer seien nur beim Karneval richtig diszipliniert.

Auch das hat mit der Emotionalität zu tun. Der Karneval ist  für viele das Wichtigste im Jahr, sie nehmen das unglaublich persönlich, ob ihre Sambaschule gut abschneidet. Da muss alles rechtzeitig fertig werden, da kann man wenig überschminken, anders als bei einem Stadion. Dort kann ja außen herum noch gebaut werden, Hauptsache, es kann gespielt werden. So wird es bei einigen Stadien sein. Nicht so beim Karneval. Als ich zum ersten Mal die Parade im Sambodrom von Rio gesehen habe, konnte ich das gar nicht glauben. Da ist der Brasilianer diszipliniert, da wird pünktlich angefangen und aufgehört. Das einzige Mal im Jahr.

Wird's eine schöne WM?

Tja. Also ich glaube, die WM wird schöne Seiten haben. Sie wird für viele Besucher ein tolles Erlebnis werden. Ich denke aber auch, dass diese schöne WM weniger schöne Begleiterscheinungen haben wird. Wie zum Beispiel Gewalt und Proteste. Aber es wird diese Diskrepanz geben. Es wird nicht nur ein großes, schönes Fest werden, wie es 2006 in Deutschland war. Diese WM, die alle nur in sehr positiver Erinnerung haben - ich glaube nicht, dass die Brasilianer das schaffen. Die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien wird beides sein. Atemberaubend schön, ein tolles Erlebnis für Besucher und Brasilianer. Und auch ein Brennglas, das alle Probleme dieses Landes ungeschminkt aufzeigt.

Mit Andreas Wunn sprach Stefan Giannakoulis

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Quelle: ntv.de

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