Fußball-WM 2018

"F*** mich, ich weine" England, Elfmeter, epische WM-Erlösung

Trainer Southgate und Spieler Dier können es kaum fassen: England hat bei einer WM endlich einen Elferkrimi gewonnen.

Trainer Southgate und Spieler Dier können es kaum fassen: England hat bei einer WM endlich einen Elferkrimi gewonnen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Erst scheint Kolumbien im letzten WM-Achtelfinale geschlagen, dann England - von den eigenen Nerven und vom ewigen Elfmeterfluch. Doch mit einer famosen Volte dreht England sein Trauma noch in einen irrwitzigen Triumph.

Wie viel so ein Glück genau wiegt, bleibt auch im Jahr 2018 noch eine dringend zu schließende Forschungslücke. Jordan Henderson jedenfalls ließ es im Spartak-Stadion zusammenbrechen, der englische Mittelfeldspieler kollabierte unter der Glückslast einfach. Henderson kniete nach dem WM-Achtelfinale gegen Kolumbien an der Mittellinie, nein, er lag kniend an der Mittellinie, Arme und Kopf auf dem Boden und die Gedanken, falls er überhaupt welche fassen konnte, irgendwo im Moskauer Nachthimmel. Das war deshalb so gut zu beobachten, weil Henderson dort plötzlich ganz alleine kauerte. Seine Mitspieler, eben noch an seiner Seite, hatten längst eine Jubeltraube fabriziert, die entfernt an eine anarchische Abstraktion der katalanischen Menschenpyramiden erinnerte, so wild türmten sich englische Freude und Erleichterung übereinander.

Es war die Euphorie über das letztlich irrwitzig dramatische Ende eines Fußballtraumas, dem England wenige Minute zuvor schon erneut erlegen schien. In jenem Moment, als Henderson als dritter englischer Schütze mit seinem Elfmeter an Kolumbiens Torwart David Ospina gescheitert war, und seine Teamkollegen an der Mittellinie im ohrenbetäubenden kolumbianischen Jubel einfach erstarrten. Genau wie Englands Hoffnungen auf den ersten Sieg überhaupt in einem WM-Elfmeterschießen, auf das Viertelfinale bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland. Das erste bei einer WM seit 2006 - und eines, das den "Three Lions" nach dem von WM-Toptorjäger Harry Kanes verwandeltem Foulelfmeter (57.) bis zum Kopframmstoß von Kolumbiens Abwehrboss Yerry Mina in der 93. Minute mitten hinein ins englische Tor und Fußballherz doch schon sicher gewesen war. Und das nach einer hin und her wogenden Verlängerung nun im Elfmeterschießen beim Stand von 2:3 plötzlich verloren schien, ebenso wie Japans Titel für das spektakulärste Scheitern im Achtelfinale dieser WM.

Dann kam Kolumbiens Matues Uribe, der den Ball an die Unterkante der Latte jagte, kein Tor, nur Sachbeschädigung. Dann kam Englands Kieran Trippier, der cool verwandelte, 3:3, wieder alles offen. Dann Carlos Bacca, dessen unplatzierten Elfer Englands junger Keeper Jordan Pickford im Stil von Russlands Torwartheld Igor Akinfejew ziemlich grandios parierte, nur statt mit dem linken Zeh mit der linken Faust. Und dann kam Eric Dier, der nach dem Spiel sagen würde: "Ich war nervös, ich war noch nie in so einer solchen Situation. Ich bin dankbar, dass ich den getroffen habe." Er traf, obwohl Ospina die Ecke ahnte, flach links unten schlug der Ball um 23.52 Uhr Ortszeit ein. 4:3, Aus. Und dann waren Henderson und England tatsächlich vom WM-Fluch erlöst, am Ende jubelten alle gemeinsam.

"F*** mich, ich weine. Ja, ja, ja"

Natürlich könnte es irgendwo im Spartak-Stadion, oder zwischen Berwick-upon-Tweed hoch im englischen Norden und Hugh Town im Süden, oder überall sonst, wo dieses spannungstechnisch anspruchsvolle WM-Achtelfinale Nerven hatte flattern lassen, noch einen glücklicheren Engländer als Henderson gegeben haben. Ex-Nationalstürmer Ian Wright womöglich. Oder Englands Fußballlegende Gary Lineker, der vor Beginn des Elfmeterschießens einfach nur "Bitte" getwittert hatte, und danach nicht mehr ganz so jugendfrei: "F*** mich, ich weine. Ja, ja, ja.". Und der im Überschwang sogar Alan Shearer, noch so eine englische Sturmlegende, um den Hals gefallen war, wodurch das Ganze noch deutlich jugendunfreier wurde.

Auch Hendersons Nationaltrainer Gareth Southgate wäre ein Kandidat. Er hatte 1996 beim traumatischen englischen EM-Halbfinal-K.-o. gegen Deutschland im Elfmeterschießen seinen Versuch vergeben. Und er hatte, neben den anderen im Turnier schon erfolgreich angewandten  Standardsituationen, in der Vorbereitung seit Monaten auch Elfmeter immer wieder trainieren lassen, mit allen Tricks und Finessen - wissenschaftliche Expertise, Festlegung der Schützen und Simulation des Gangs von der Mittellinie zum Elfmeterpunkt inbegriffen. Nun ist Southgate als erster WM-Elfmeterschießen-Gewinnertrainer in der Geschichte des Fußball-Mutterlandes verewigt und sagte nach dem Spiel: "Elfmeterschießen sind hart. Wir haben lange und intensiv über den Ablauf eines Elfmeterschießens geredet. Die Spieler sind ruhig geblieben. Es ist ein besonderer Moment für uns."

"Kommt drauf an, da zu sein - ich war es"

Besonders dürfte er allerdings für Jordan Henderson gewesen sein, besonders erlösend, besonders glücklich. Der Liverpool-Profi wurde gegen Kolumbien nach 120 zehrenden Minuten voller Hitzigkeit und Theatralik zwar zum 13. englischen Fehlschützen in einem Elfmeterschießen bei WM oder EM - aber er musste am Ende nicht geschlagen vom Platz, und damit auch nicht Englands Team wie sechsmal zuvor in sieben WM-EM-Elfmeterschießen. Diesmal kam es anders, dank Pickfords Parade und Diers Nervenstärke. Der lobte hinterher lieber seinen Torwart, so trocken wie er getroffen hatte: "Er ist brillant." Das bestätigte Pickford nach seinem erst sechsten Länderspiel zwar nicht direkt, aber er sagte: "Es kommt drauf an, in diesem einen Moment da zu sein, und ich war es."

Das Feine daran aus englischer Sicht: Pickford und Co. haben nun die Aussicht auf weitere besondere Momente bei dieser WM. In ihrem ersten WM-Viertelfinale seit 2006 treffen sie am kommenden Samstag auf Überraschungsteam und Schweiz-Duselbesieger Schweden (ab 17.00 Uhr im n-tv.de Liveticker). Außenseiter werden sie dabei nicht sein, auch wenn die junge Southgate-Truppe gegen Kolumbien keine Glanzleistung zeigte. Gegen einen Gegner, der ohne seinen Chef-Kreativling James Rodriguez lange nicht mitspielen wollte und gegen Ball und Gegner eher rustikalen Holzschuhfußball zeigte, war England zwar optisch überlegen. Klare Torchancen ergaben sich daraus nicht, es fehlten zu oft Tempo, Ideen und Mut beim letzten Pass und Southgates Matchplan schien die Vorgabe zu enthalten, die in der Heimat brodelnde WM-Euphorie mit schönem Offensivspiel nicht weiter anzufachen. Goldene Ausnahme: Eine Kopfballchance in der 15. Minute durch Harry Kane, nachdem Kolumbiens Keeper Ospina sich bei einer Flanke verschätzt hatte. Kane nickte den Ball aus Nahdistanz über das leere Tor.

Wiedergutmachung betrieb er in der 59. Minute, nachdem er vier Minuten zuvor bei einer Ecke vom Kolumbianer Carlos Sanchez zu Boden gerungen wurde. Dass es bis zur Ausführung des korrekten Elfmeters eine Ewigkeit dauerte, lag an ausufernden kolumbianischen Protesten gegen die völlig korrekte Entscheidung von Referee Mark Geiger (USA). Dass Kane den Strafstoß dennoch ungerührt zur englischen Führung und seinem sechsten WM-Tor verwandelte, zeigte seine Klasse und setzte seine märchenhafte WM fort. Aus dem Spiel heraus fiel England offensiv aber zu wenig ein, während Kolumbien zwischenzeitlich elf Neymars auf dem Platz zu haben schien - was die Oscar-Reife anging, nicht die fußballerische Klasse.

Erst in den letzten zehn Minuten straffte sich Kolumbien zu einer fußballerischen Schlussoffensive. Johan Moica (82.) vergab noch ziemlich freistehend im Strafraum, nachdem Englands Kyle Walker den Ball im Mittelfeld hergeschenkt und einen gefährlichen kolumbianischen Konter ermöglicht hatte. Dann zwang Matues Uribe Englands Keeper mit einem Fernschusshammer zu einer Glanzparade, Pickford konnte zur Ecke klären. Für die stellte England dann anders als Senegal nicht nur einen Pfostenbewacher ab, sondern zwei, links und rechts. Und anders als Senegals Idrissa Gueye lehnten sie auch nicht rücklings am Pfosten, als würden sie auf den Bus warten statt auf einen abzuwehrenden Ball. Trotzdem setzte Kolumbiens Innenverteidiger Mina den Ball per Aufsetzer über Englands Kieran Trippier hinweg mit seinem dritten WM-Tor (Deutschland hatte insgesamt zwei) zum Last-Minute-Ausgleich ins Tor. Nachhaltig schocken ließ sich England davon an diesem Abend nicht, obwohl wie die Kühle ins Spartak-Stadion zwischenzeitlich Angst in die englischen Spieler zu kriechen schien. Trotz Wackelphase in der Verlängerung: Der englische Triumph im Elfmeterschießen war ebenso erlösend wie historisch und verdient.

Lange nach Spielende und deutlich nach Mitternacht verloren sich nur noch ein paar Ordner und Journalisten im Spartak-Stadion. Fans waren kaum noch da - außer im englischen Block hinter dem Gästetor, wo sie seit dem Schlusspfiff unablässig ihr Elfmeter-Wunder besangen. Erst immer wieder nur mit "England, England, lalalala", dann irgendwann mit "Don't look back in anger", das der Stadion-DJ vorausschauenderweise in seinen CD-Koffer gepackt hatte. Schließlich mit etwas, das sich für nicht-englische Ohren zu dieser Stunde nicht mehr entschlüsseln ließ. Aber: Es klang schwer glücklich.

Quelle: ntv.de

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