Fußball-WM 2018

Die wahren Sieger der WM-Pleite Iran hat Anstoß zur Revolution

Feiern gemeinsam: iranische Fans in Teheran.

Feiern gemeinsam: iranische Fans in Teheran.

(Foto: picture alliance/dpa)

Spanier beklagen den Ruin des Fußballs, ein Salto wird zur Lachnummer, Iraner jubeln ekstatisch und verlieren. Doch die eigentlichen Sieger des gegensätzlichen WM-Spiels stehen nicht in Kasan auf dem Platz, sondern sind Tausende Kilometer entfernt.

Was Real Madrids hochdekorierter Rechtsverteidiger Dani Carvajal nach dem qualvollen spanischen Arbeitssieg über die Spielweise des krassen Außenseiters Iran zu sagen hatte, dürfte Tajebeh Siavoshi in Teheran herzlich egal gewesen sein. "Dass sie so defensiv spielen, ist Teil des Spiels", beklagte sich der frühere Leverkusener in die Mikrofone, "aber dieses Zeitschinden und Simulieren von Verletzungen - das ruiniert den Fußball."

Die Iraner hatten mit ihrem Zehn-Mann-Abwehrbollwerk bis zur 54. Minute das 0:0 gehalten. Dann halfen sie allerdings tatkräftig mit, als Ramin Rezaeian Diego Costa anschoss und der Ball zum einzigen Treffer des Abends für Spanien ins Netz prallte. Dem Weltmeister von 2010 reicht nun im letzten Spiel am Montag gegen Marokko bereits ein Unentschieden, um ins Achtelfinale einzuziehen. Die Chancen der Iraner, die zum Auftakt Marokko 1:0 geschlagen hatten, sind hingegen deutlich gesunken. Gegen Europameister Portugal ist aller Voraussicht nach ein Sieg notwendig, um erstmals in der WM-Geschichte die K.o.-Runde zu erreichen. "Wir träumen noch", sagte Trainer Carlos Queiroz.

"Kurz vor dem Herzinfarkt"

2246 Kilometer entfernt ist für Frauenrechtlerin Siavoshi mit der knappen Niederlage gegen den haushohen Favoriten ein noch größerer Traum bereits in Erfüllung gegangen. Erstmals seit 40 Jahren haben an diesem Abend Frauen im Iran ein Fußballspiel legal im Stadion verfolgt. "Das war der eigentliche, große Sieg", sagte die Parlamentsabgeordnete laut Nachrichtenagentur Isna. Frauen durften die Übertragung der Begegnung beim Public Viewing im Teheraner Azadi-Stadion erleben.

Seit 1979 ist in dem Land das Stadionverbot für Frauen in Kraft. Nach Ansicht des erzkonservativen Klerus haben sie in Fußballstadien mit frenetischen männlichen Fans und markigen Slogans nichts zu suchen. Von euphorischem Jubel wie in der 62. Spielminute wären sie normalerweise ausgeschlossen. Saeid Ezatolahi trifft zum Ausgleich! Explosionsartig entlädt sich die Freude über das erste selbsterzielte Tor des Turniers, im Freudentaumel der Jubeltraube geht der Pfiff des Schiedsrichters unter: Abseits, weiter 0:1.

Die Ekstase und die anschließende Ernüchterung sorgt für so heftige Gefühlsausbrüche, dass ein iranisches Teammitglied vorübergehend ins Krankenhaus muss. Von der Videoleinwand im Teheraner Stadion twitterte eine Frau nach ihrer Stadionpremiere: "Ich wusste nicht, dass es so viel Spaß macht, zwei Stunden rumzubrüllen und kurz vor dem Herzinfarkt zu stehen."

"Vor zwei Dingen sind wir immer machtlos"

Über strittige Szenen, wie die in der 94. Minute des umkämpften Spiels, hatten Frauen zuvor also nicht mit anderen Fans leidenschaftlich diskutieren dürfen. Der missglückte Flick-Flack-Einwurf von Milad Mohammadi spaltet und amüsiert seitdem das Netz: Statt den Ball kurz vor Spielende und bei 0:1-Rückstand schnell wieder ins Spiel zu bringen, nutzte der 24-Jährige die Gunst der Stunde für seine ganz persönlichen 20 Sekunden des Ruhms.

Im Bewusstsein, dass die Kamera nur auf ihn gerichtet war, ging der Abwehrspieler des russischen Klubs FK Achmat Grosny langsamen Schrittes zurück an die Bande, küsste den Ball, streckte den Zeigefinger gen Himmel, streichelte den Ball, schlug ihn sich nochmal kräftig an die Stirn, um dann mit einem Schritt Anlauf einen Salto zu schlagen. Doch der Schwung passte nicht, Mohammadi musste den Einwurf abbrechen. Als der Iraner erneut Anlauf nahm, wurde es dem uruguayischen Schiedsrichter Andres Cunha zu bunt, er ermahnte den Spieler. Der warf daraufhin den Ball ganz normal zu seinem Mitspieler. Im Internet sorgte der Salto Nullo für zahlreiche Lacher und Diskussionen.

Diskussionen, die im Azadi-Stadion erstmals auch weibliche Stimmen hören. In Teheran ist heute alles anders. Denn nach nationalen und internationalen Protesten hatten die iranischen Behörden den Frauen im Land Zugang zum Stadion gestattet. Obwohl auch diesmal die Polizei zunächst mit Hinweis auf "infrastrukturelle Mängel" das Ganze absagen wollte, kam vom Innenministerium die Anweisung, alle ins Stadion zu lassen. Die Polizei musste nachgeben. Ein Polizist soll laut sozialen Medien vor dem Stadion gesagt haben: "Vor zwei Dingen sind wir immer machtlos: Frauen und Fußball".

Quelle: ntv.de, mra/dpa/sid

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