Fußball-WM 2018

Interview mit Reiner Calmund "Özil muss den Schweinehund überwinden"

imago16580499h.jpg

(Foto: imago/MIS)

Lucio, Emerson, Juan - als Leverkusen-Manager holte Reiner Calmund einst brasilianische Topspieler nach Deutschland. n-tv.de hat den 65-Jährigen in Brasilien getroffen. Im Interview spricht er über den Druck von Gastgeber Brasilien und die schwerste deutsche Gruppe seit 20 Jahren.

Von 1988 bis 2004 Manager bei Bayer Leverkusen: Reiner Calmund.

Von 1988 bis 2004 Manager bei Bayer Leverkusen: Reiner Calmund.

(Foto: imago/Strussfoto)

n-tv.de: Als Sie mit Andreas Thom den ersten DDR-Oberligaspieler nach Leverkusen gelotst haben, sind Sie vorher mit Schokolade und Blumen bei seinen Eltern vorstellig geworden. Wie lief das bei Ihrem ersten Transfer eines Brasilianers vor fast 30 Jahren?

Reiner Calmund: Das war Tita. Das fing an wie bei einem Kreisklassenspieler. Ich war damals im Urlaub mit Berti Vogts und unserem Zeugwart von Bayer 04 Leverkusen. Mit den beiden und Heinz Prellwitz, der in Brasilien erfolgreich als Sportjournalist und Fotograf tätig war, sind wir während der Winterpause 1987/88 zum Abschiedsspiel eines Torwarts gefahren. Da fiel mir Tita auf. Das war ein Freundschaftsspiel, in dem der große Zico die 10 tragen wollte. Aber Tita hat gesagt: Ich ziehe sie nicht aus, ich hab hier immer die 10. Dadurch haben dann beide mit der 10 gespielt und ich hatte ihn im Blick. Für knapp 500.000 Dollar haben wir Tita dann geholt, ein Schnäppchen damals. Und er war direkt mitentscheidend dafür, dass wir in der Saison den Uefa-Pokal gewonnen haben.

Bei Tita blieb es nicht. Sie wurden zum Spezialisten für Brasilien-Transfers.

Mit Tita fing es an. Wir hatten danach ein immer ausgeklügelteres System, wir haben Topspieler verpflichtet. Mit Juan, Lucio, Emerson und Jorginho sind vier Spieler später Kapitän der Seleção geworden. Das ist in Brasilien die Position direkt hinter dem Staatspräsidenten. Nur noch viel beliebter. Einer meiner Lieblingsspieler war Ze Roberto, der hinter Claudio Pizarro internationaler Rekordspieler der Bundesliga ist

Was hat sich seit Ihrem ersten Besuch in Brasilien im Land am stärksten verändert?

Auf den ersten Blick eigentlich nicht viel. Natürlich ist das eine oder andere Hotel besser geworden, hier und da wurde die Infrastruktur ausgebaut. Aber die Top five sind nach wie vor: Glauben, Samba, Karneval, Lebensfreude - und Fußball.

Trotzdem gilt die WM im fußballverrückten Brasilien als eines der umstrittensten Turniere in diesen Jahrzehnten. Sie wurde und wird von Protesten begleitet.

In der achtjährigen Amtszeit von Staatspräsident Lula bis 2011 hat Brasilien ein kleines Wirtschaftswunder geschafft. Fast 40 Millionen Menschen konnten aus der Armut geführt werden. Aktuell gibt es wieder Probleme, das Leben der Brasilianer ist nicht mehr so gut. Dadurch sind sie kritischer geworden und fragen jetzt auch: Wie ist das möglich, dass wir für eine Fußball-Weltmeisterschaft allein für die Stadien mehr bezahlen müssen als die beiden letzten WM-Ausrichter Deutschland und Südafrika zusammen? Vor allen Dingen, wenn man sieht: Schulen, Gesundheit, Krankenhäuser, Kindergarten – bei all diesen Themen hapert es nach wie vor. Da sind auch die größten Fußballfans inzwischen skeptisch und fragen: Was ist mit der Korruption, was ist mit der Politik, warum vertreten die nicht mehr unsere Rechte und Interessen? Das ist neu, auch in dieser Form. Aber das ist ein Thema, das man nicht wegleugnen kann.

Wie wichtig war der Auftaktsieg von Brasilien gegen Kroatien für die Stimmung im Land?

Auch wenn das glücklich war mit dem Witz-Elfmeter: Der Sieg tut dem Land und auch dieser Weltmeisterschaft gut. Ich hab bei meiner Ankunft festgestellt, dass eine große WM-Stimmung herrscht. Die Begeisterung ist da. Bei einem frühen Ausscheiden könnte sich der Frust der Demonstranten aber schnell wieder neu anheizen oder sogar noch größer werden.

Ist der Druck für Brasilien als Fußball-Rekordweltmeister und Gastgeber noch größer als bei anderen Turnieren?

Der Druck ist immens. Die Nationalspieler wissen: Wenn wir nicht Weltmeister werden, dann müssen wir vermutlich zum Gesichtschirurgen, da hat Brasilien ja eine Menge von. Für die Brasilianer zählt nur der sechste WM-Titel. Es wird in Brasilien keine Situation wie 2006 in Deutschland geben, als fast eine Million Menschen auf den Beinen waren und den dritten Platz gefeiert haben. Wenn Brasilien Zweiter, Dritter wird, dann gibt es statt Jubel Kokosnüsse. Hier wird nur der Erste gefeiert.

Auch bei einem unglücklichen Ausscheiden?

Ich habe mich nach dem WM-Aus 1990 gegen Argentinien sogar mit einigen Brasilianern gestritten, weil die sagten: Trainer Sebastiao Lazaroni habe damals die völlig falsche Taktik gewählt. Ich sagte: Ich habe das Spiel in Italien gesehen, die Brasilianer hatten 20 Torchancen, haben vier-, fünfmal den Pfosten getroffen. Argentinien hatte nur zwei oder drei Torgelegenheiten. Lazaronis Taktik, um Chancen zu verhindern und zu produzieren, war also hervorragend, das 0:1 war nicht seine Schuld. Darüber kannst du mit Brasilianern nicht diskutieren. Die sagten: Nein, falsche Taktik! Egal, wie schlau sie sind, wie hoch ihr Fußballverstand ist. Die machen keine Kompromisse bei Niederlagen.

1990 ist Brasilien auch an den eigenen Nerven gescheitert. Ist die Seleção diesmal dem Druck gewachsen?

Die Brasilianer sind qualitativ gut besetzt. Sie spielen vorne Samba-Fußball und hinten eine rustikale Defensive, das war schon immer so. Der Sieg wird ihnen Schwung geben. Das gibt Selbstvertrauen, das gibt Begeisterung und das löst viele Blockaden. Sie sind genau wie Deutschland einer von vier, fünf Favoriten.

Ein anderer Favorit war Spanien - bis zum Auftaktdebakel gegen Holland. Können Sie uns erklären, wie ein amtierender Weltmeister sein erstes Turnierspiel mit 1:5 verlieren kann?

Das ist schwer. Spanien ist eine der erfahrensten Mannschaften im Turnier, aber auch satt. Die haben alles erreicht, sie sind amtierender Welt- und Europameister, viele Spieler aus dem Kader haben zusätzlich die Champions League gewonnen. Trotzdem hatten sie sich sicherlich vorgenommen, bei der WM noch einmal alles zu geben. Die Topstars der letzten Jahre wollten mit dem größten Titel von der internationalen Bühne abtreten. Aber wenn dir fünf Prozent an Athletik, an Aggressivität fehlen, kannst du das nicht mehr alles kompensieren. Du kontrollierst vieles, aber auf einmal kommt die Lokomotive wie gegen Holland angefahren und überrollt dich. Du willst nochmal draufspringen - und springst hinter dem Zug in die leeren Gleise. So ist es Spanien ergangen.

Was ist dem Titelverteidiger jetzt noch zuzutrauen bei dieser WM?

Das 1:5 war ein Tiefschlag. Aber ich halte Spanien für clever und stark genug, das nochmal zu kompensieren. Wobei man sagen muss: Weltmeister Spanien, Vize Weltmeister Holland und mein Geheimfavorit Chile in einer Gruppe ist schon ein Hammer.

Neben Spanien ist mit Uruguay ein weiteres Topteam zum Start gestolpert. Wie ist denn Ihr Bauchgefühl vor dem WM-Auftakt der Deutschen gegen Portugal?

Ich hab Murmeln im Bauch. Ich glaube, das ist eindeutig die schwerste WM-Gruppe, die wir in den letzten 20 Jahren hatten. Bei den letzten beiden Titeln 1990 und 1996 hatten wir auch das Quäntchen Glück. Das brauchen wir jetzt auch.

Wie wichtig wäre ein Sieg gegen Portugal für das weitere Turnier?

Ganz wichtig, das würde alles erheblich beruhigen. In dieser Gruppe sind vier Mannschaften, die zuletzt immer in der K.o.-Runde der WM dabei waren. Da kannst du gegen jede Punkte lassen.

Welchen Einfluss wird das schwül-heiße Wetter in den deutschen Spielorten haben? In Salvador schwitzt man schon im Sitzen.

Da wird mir zu viel Theater drum gemacht. Natürlich ist es ein anderes Klima. In Südafrika war es uns zu kalt, jetzt hier in Brasilien ist es uns zu schwül. Viele haben schon vergessen, dass wir bei der WM 2006 oft über 30 Grad hatten und viel Fans gerne das Sommermärchen bejubelt haben.

Die WM-Vorbereitung wurde von Verletzungssorgen gestört. Wie schwer wiegt der Ausfall von Marco Reus in der Offensive?

Reus täte dem ganzen Kader gut, wenn er dabei wäre, nicht nur fußballerisch, sondern auch menschlich. Fußballerisch erfüllt er alles. Er ist auf engstem Raum sowohl im Kombinationsspiel wie im Dribbling Weltklasse, er ist im Kontern mit seiner ungeheuren Schnelligkeit Weltklasse, er bringt Torgefahr bei Freistößen. Das wäre ein Spieler gewesen, der zu den besten Fünf des Turniers hätte gehören können. Der ist nicht zu ersetzen.

Auch nicht von Mesut Özil und Mario Götze?

Bei Özil kann ich nur appellieren: Mensch, lass den Wecker jetzt mal klingeln und explodier doch mal so wie in der WM-Vorrunde 2010 gegen Ghana. Der ist ja vom Fußballgott gesegnet mit Talent. Wenn alles läuft, ist er ein Traumspieler. Aber er muss den inneren Schweinehund überwinden und sagen: Ich bin mittlerweile ein Leader in dieser Mannschaft, ich muss auch gegen Widerstände ankämpfen. Dass er die Qualitäten dazu hat, hat er schon gezeigt.

Und Götze?

Bei Götze ist es auch so, der kann Fußball spielen wie vom anderen Stern. Wenn sie ihren Rhythmus und ihre Linie finden, sind das zwei Juwelen. Sie können Deutschland glänzen lassen. Aber das wird nicht so einfach,

Rein statistisch ist Joachim Löw schon jetzt der beste Bundestrainer der deutschen Fußballgeschichte. Braucht er trotzdem einen Titel, um auch als ganz großer Trainer in Erinnerung zu bleiben?

Es gibt keinen Ersatz für Titel. Fragen Sie mich, Vizekusen! Aber für mich ist Joachim Löw auch ohne Titel ein sehr guter Bundestrainer. Natürlich ist der Titel immer das Sahnehäubchen oben drauf. Trotzdem kann ich nur sagen: Hier und da macht man einen Fehler, hier und da muss man mal Glück haben. Die Sehnsucht nach einem Titel ist bei uns allen da. Aber wenn man jemanden bewertet, ist auch eine Portion Realitätssinn erforderlich. Joachim Löw wird auch in Brasilien alles versuchen, das Optimale auf den Platz zu bringen.

Wie hoch sind die deutschen Titelchancen?

Wenn ich sage, wir zählen zu den fünf besten WM-Teams, dann ist die Chance mathematisch bei 20 Prozent. Nicht mehr und nicht weniger. Bei 20 Prozent darf ich hoffen, da darf ich Daumen drücken, da darf ich auch sagen: Ich will es werden. Aber ich muss trotzdem realistisch sein und darf nicht sagen, ich muss es werden. Mein Wunschfinale wäre Deutschland gegen Brasilien. Da bin ich romantisch und egoistisch zugleich.

Mit Reiner Calmund sprach Christoph Wolf

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen