Boss tobt, Spielerin überrascht Dieser Kuss entwürdigt Spaniens WM-Titel
21.08.2023, 14:40 Uhr
Ein Kuss von Spaniens Verbandspräsident Luis Rubiales für Fußballerin Jennifer Hermoso bei der Siegerehrung nach dem gewonnenen WM-Finale sorgt für Wirbel. Die Spielerin bekennt zunächst, dass ihr das nicht gefallen habe. Und der Boss? Der tut das als Nichtigkeit ab.
Luis Rubiales sorgt für Fassungslosigkeit und ist angesichts dessen selbst fassungslos. Dass sein leidenschaftlicher Kuss auf den Mund nach dem WM-Triumph der Spanierinnen eine Sexismus-Debatte auslöst, das mag einfach nicht in seinen Kopf. Wütend reagiert er auf die heftige Kritik, die auf ihn einprasselt, nachdem er die Fußballerin Jenni Hermoso nach dem Sieg im Finale von Sydney geküsst hatte. "Der Kuss mit Jenni? Idioten gibt es überall. Wenn zwei Menschen miteinander eine unwichtige Geste der gegenseitigen Zuneigung teilen, darf man dem Mist, der da gesagt wird, keine Beachtung schenken", sagte er Radio Marca auf dem Weg zum Flughafen.
Auch der spanische Verband war im Nachgang der Empörung eilig bemüht, den bizarren Vorfall einzufangen. "Es war eine völlig spontane gegenseitige Geste aufgrund der immensen Freude, die der Gewinn einer WM mit sich bringt", wurde Hermoso in einem Kommentar zitiert, der vom Verband übermittelt wurde: "Der Präsident und ich haben ein sehr gutes Verhältnis zueinander, sein Verhalten uns gegenüber war hervorragend, und es war eine natürliche Geste der Zuneigung und Dankbarkeit." Diese dürfe "nicht so sehr überbewertet werden". Es sind Sätze, die Fragen aufwerfen. Denn in einer ersten Reaktion hatte die 33-Jährige, die für Spanien einen Elfmeter nach Videobeweis (70.) vergeben hatte, noch ganz anders reagiert.
"Das hat mir nicht gefallen", sagte Hermoso in einem Instagram-Livestream nach dem Spiel. Eine nicht falsch zu verstehende Aussage. Und noch fataler: Sie fragte sich, was sie hätte tun können? Rubiales interessierte das alles nicht. Er redet den Fall klein und verpasst dem Frauenfußball damit einen Stoß zurück in alte, bittere Zeiten: alles ein bisschen niedlich, keine Augenhöhe, der Mann nimmt sich, was er will. Dabei spielt auch keine Rolle, ob er mit Vorsatz gehandelt hat oder nach dem historischen (weil ersten) Triumph von den Emotionen überwältigt worden war. Eine Grenze ist eine Grenze. Doch es wird noch bizarrer. Bei X kursieren Videos aus der Kabine, in denen Rubiales den Weltmeisterinnen verspricht, sie nach Ibiza einzuladen. Er sagt dabei, offenbar im Scherz, auch diesen Satz: "Da feiern wir auch die Hochzeit von Jenni und Luis Rubiales!" Zuletzt soll die 33-Jährige mit ihrer Nationalmannschaftskollegin Alexia Putellas zusammen gewesen sein, das ist aber bereits Geschichte.
Überforderung als schlimmstes Alarmzeichen
Rubiales ist sich seines Vergehens derweil augenscheinlich nicht mal bewusst. Nein, er verteidigt sich sogar. Er sagt: "Wir sind Meister und dazu stehe ich." Mit seiner selbstgefälligen Ignoranz und Ich-tue-was-ich-will-Mentalität befeuert er eine Debatte, die der Frauenfußball eigentlich längst hinter sich gelassen haben wollte. Und sollte. Doch offensichtlich bleiben die Themen Machismus und Sexismus noch ein langer Begleiter des Sports. Auch mitten in Europa, wo es doch eine hohe Sensibilität für "Me too"-Themen gibt. Dass sich die Spielerin in ihrer Überforderung (erst) machtlos fühlte, das ist das denkbar schlimmste Alarmzeichen. Dass nun alles nicht so schlimm gewesen sein soll, wirkt im Nachgang ein wenig konstruiert. So oder so: Rubiales hat der Mannschaft mit seiner Dummheit (im besten Fall) oder seiner Übergriffkeit (im schlechtesten Fall) den großen, den historischen WM-Moment geklaut. Er hat ihn entwürdigt.
Die spanische Gleichstellungsministerin Irene Montero schrieb auf der Plattform X, dass es sich bei dem Kuss um eine "Form sexueller Gewalt" handele. Es sei eine Form der sexuellen Gewalt, "die wir Frauen täglich erleiden und die bisher unsichtbar war und die wir nicht normalisieren dürfen. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass Küssen ohne Zustimmung etwas ist, das einfach 'passiert'." Die Zustimmung stehe im Mittelpunkt. "Nur Ja heißt Ja." Auch die spanische Ministerin für soziale Rechte, Ione Belarra, äußerte sich: "Wir alle denken: Wenn sie das vor den Augen ganz Spaniens tun, was werden sie dann nicht auch im Privaten tun? Sexuelle Gewalt gegen Frauen muss ein Ende haben." Die Tageszeitung El Pais kommentierte: "Wir schreiben das Jahr 2023, diese Gesten sind nicht zu rechtfertigen."
Und die Kritik uferte am Tag nach dem Finale immer weiter aus. Spaniens Kultur- und Sportminister Miquel Iceta bezeichnete das Verhalten als "inakzeptabel" und forderte, Rubiales müsse nun "als allererstes Erklärungen abgeben und sich entschuldigen". Im staatlichen Radiosender RNE forderte er noch: "Gerade wir, die öffentliche Verantwortung tragen, müssen sehr vorsichtig sein, denn wir geben der Gesellschaft eine Botschaft." Auch der niederländische Nationaltrainer Andries Jonker war fassungslos: "Das ist inakzeptabel. Es ist unglaublich."
Nicht der erste Übergriff bei der WM
Der Kuss von Rubiales war nicht der erste übergriffige Vorfall bei dieser WM. Zuvor gab es Ermittlungen der FIFA gegen den sambischen Trainer Bruce Mwape, der die Brüste einer Spielerin berührt haben soll. Schon vor der WM hatte es schwere Anschuldigungen gegen Mwape gegeben. Der "Guardian" hatte berichtet, dass gegen den Coach aufgrund des Verdachts sexuellen Fehlverhaltens ermittelt werde. Dem 63-Jährigen wurde vorgeworfen, sich die Fußballerinnen sexuell gefügig zu machen. "Wenn er mit jemandem Sex haben möchte", zitiert die Zeitung eine anonyme Nationalspielerin, "dann musst du Ja sagen". Es sei "normal, dass der Trainer mit den Spielerinnen unserer Mannschaft schläft". So nutze der Trainer demnach seine Autorität und Macht aus.
Die deutsche Ex-Nationalspielerin Tabea Kemme empfand den Übergriff Rubiales' als völlig fehl am Platz. "Ich wünsche mir, dass die Menschen, die für den psychischen Machtmissbrauch im spanischen Verband verantwortlich sind, aus dem System genommen und sanktioniert werden", schrieb sie in ihrer Kolumne für t-online. Im vergangenen Jahr waren nach der EM in England insgesamt 15 Nationalspielerinnen aus Protest gegen Spaniens Verband und den umstrittenen Nationaltrainer Jorge Vilda vorübergehend zurückgetreten. Hermoso und auch Weltfußballerin Alexia Putellas unterzeichneten den Brief zwar nicht, sie unterstützten ihn aber, indem sie ihn auf ihren eigenen Social-Media-Seiten veröffentlichten. Nur drei Spielerinnen kamen anschließend zurück.
Durch unangebrachte und überzogene Kontrollmaßnahmen soll psychischer Druck aufgebaut worden sein, so lauteten damals die Vorwürfe. Eigentlich wollte die Mannschaft 2022 erwirken, dass sich der Verband von Vilda trennt, doch das geschah nicht, stattdessen hielt vor allem einer zu ihm: Verbandsboss Rubiales.
Quelle: ntv.de, mit dpa/sid