Wird der Gold-Rekord geknackt? Gnadenlos gedrillte Chinesen sind der Perfektion nah
30.07.2024, 19:46 UhrIm Wasserspringen ist China auf Goldkurs. Die Chinesen wollen das erste Land werden, das alle Goldmedaillen in der olympischen Disziplin gewinnt. Dafür werden die Athleten in den Sportschulen der Perfektion zu Höchstleistungen getrieben.
"Das war der stärkste Wettkampf in diesem Jahr", sagte der deutsche Wasserspringer Timo Barthel am Montag nach sechs Synchronsprüngen vom Zehn-Meter-Turm der "Welt". Doch damit meint er nicht die eigene Leistung. Wie viele ist Barthel fasziniert und begeistert von den Sprüngen der Chinesen.
Mit einer makellosen Serie von sechs Synchronsprüngen sicherten sich Lian Junjie und Yang Hao die Goldmedaille im Zehn-Meter-Synchronspringen der Männer. Das deutsche Wasserspringer-Duo patzte bei seinen Sprüngen. Gemeinsam mit dem 19-jährigen Jaden Eikermann belegte Barthel Rang sieben. Darüber ärgerte sich Barthel weniger, sondern bewunderte die gegnerische Leistung: "Ich weiß nicht, ob ich schon mal eine 490 gesehen habe. Supergeiler Wettkampf." Kein Wunder, denn Wasserspringen hat in China Tradition.
Dominanz aus Fernost: Olympia-Gold für China
Seit der Olympischen Spiele in St. Louis 1904 gehört Wasserspringen zu den olympischen Disziplinen. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang dominierten die USA den Wassersport, zu dem die Disziplinen Kunstspringen, Turmspringen und Synchronspringen gehören. Doch das änderte sich 1984.
Zum ersten Mal nach drei Jahrzehnten der selbstgewählten internationalen Sport-Isolation entsandte die Führung der Volksrepublik China mehr als 200 Athletinnen und Athleten nach Los Angeles. Überraschend bezwang damals die Chinesin Zhou Jihong ihre beiden US-amerikanischen Konkurrentinnen Michele Mitchell und Wendy Wyland im Zehn-Meter-Turmspringen mit 435,51 Punkten. Die damals 19-Jährige holt damit das erste Olympia-Gold für China.
Zhou Jihong gewinnt im Zehn-Meter-Springen der Frauen bei den Olympischen Sommerspielen in Los Angeles 1984 erstmals Gold für China.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Ron Edmonds)
Seitdem ringt China den USA langsam, aber sicher die Vormachtstellung im Wasserspringen ab. Das Monopol halten die chinesischen Athletinnen und Athleten schon seit der Jahrtausendwende. Denn seit 1988 hat China 46 von 60 möglichen Goldmedaillen im Wasserspringen bei den Olympischen Spielen gewonnen. Und das nicht ohne Grund.
Sprünge im Zeichen der Perfektion
Auch bei den Olympischen Spielen in Paris 2024 stehen die Chinesen schon nach wenigen Wettkampftagen in der Medaillenbilanz im Wasserspringen bereits an der Spitze: In zwei von den zwei bisher ausgetragenen Wettbewerben triumphierten die Chinesen. Sechs Medaillen stehen noch aus.
Sogar auf dem Treppchen vollkommen synchron: Yang Hao und Lian Junjie feiern ihren Sieg.
(Foto: picture alliance/dpa)
Eine davon gewannen Yang Hao und Lian Junjie am Montag im Zehn-Meter-Synchronspringen der Männer. Mit einer Punktzahl von 490,35 entthronte das chinesische Männerduo die Konkurrenz aus Großbritannien. Tom Daley und Noah Williams gewannen mit 463,44 Punkten Silber. Der 26-jährige Yang Hao und der 23-jährige Lian Junjie dominieren die Disziplin seit Jahren. Trotzdem standen sie in Paris zum ersten Mal auf dem olympischen Podium.
Ihre Sprünge zeichneten sich durch Präzision, Synchronisation und ihren hohen Schwierigkeitsgrad aus - sie glichen nahezu der Perfektion und erhielten auch die entsprechenden Punkte. Bei ihrem letzten Sprung und der schwierigsten Übung ihres Programms, dem Viereinhalbfachsalto vorwärts mit nahezu perfektem Einsprung, der am Montag mit 103,23 Punkten die höchste Wertung des Wettkampfs einbrachte, zeigten sie ihr ganzes Können.
Deutscher Wasserspringer Barthel: "Die kennen nichts anderes außer Wasserspringen"
Pure Perfektion zeigen Chen Aisen und Lin Yue aus China bei den Olympischen Spielen in Rio 2016.
(Foto: picture alliance / dpa | Vcg)
Noch perfekter war ein chinesisches Männerpärchen acht Jahre vor ihnen: Denn bei den Olympischen Spielen in Rio ersprangen die Chinesen Chen Aisen und Lin Yue mit 496.98 Punkten die Goldmedaille.
Angesichts der jahrelangen Dominanz ist der deutsche Wasserspringer Barthel nicht überrascht von den herausragenden Leistungen der Chinesen im Centre Aquatique. Der "Welt" berichtet er vom kasernierten Leben der chinesischen Wasserspringer. "Die leben in einem Internat zu viert auf einem Zimmer. Die trainieren zwölf Stunden. Die kennen nichts anderes außer Wasserspringen", sagte Barthel. Der chinesische Nachwuchs im Wasserspringen hätte kein Privatleben. "Teilweise sehen sie ihre Familie drei Jahre lang nicht", sagte Barthel der "Welt".
Das mache den Unterschied zwischen absoluter Weltklasse und der Leistung der deutschen Wasserspringer. "Aber die Frage ist auch: Will man das so? Will man so ein Leben haben, damit man Gold hat?", sagte er weiter.
Trainingsbericht: Mit dem Rohrstock hinterm Rücken
Doch die Internate, von denen Barthel spricht, sind keine Neuheit: Staatlich gelenkte Sportschulen gibt es in China schon seit 1956. Unter Machthaber Mao Zedong entwickelte China ein Spitzensportsystem, das sich an der Sowjetunion orientierte - mit Sportschulen, an denen Schülerinnen und Schüler halbtags unterrichtet und halbtags zu Höchstleistungen trainiert werden.
Immer wieder schockieren Berichte über die chinesischen Sportnachwuchszentren. Das "TIME Magazine" berichtete während der Olympischen Spiele 2016 über die staatliche Sportschule Huangshi in der zentralchinesischen Provinz Hubei. Sobald die Nachwuchssportler aus den Windeln heraus sind, werden sie teilweise noch im Kleinkinds-Alter an den staatlichen Sportakademien zu perfekten Athletinnen und Athleten geformt, die China Ruhm in Form von Goldmedaillen einbringen sollen.
Genauer beschreibt der "TIME Magazine"-Bericht eine Lehrstunde bei der chinesischen Wasserspringtrainerin Yu Lianming. Sie unterrichtete an der staatliche Sportschule Huangshi Jungen und Mädchen im Wasserspringen, teilweise nicht älter als vier Jahre. Eine von ihnen ist Tang Zixuan. Das Mädchen ist von ihrem zukünftigen Erfolg im Wasserspringen überzeugt. "Ich genieße es, Bitterkeit zu essen", sagte sie damals dem "TIME Magazine". "Bitterkeit zu essen" ist ein chinesischer Ausdruck dafür, Härten oder sogar Leiden ohne Klagen zu ertragen. Und genau diesen Spruch hat die Fünfjährige als Erfolgsrezept verinnerlicht.
"TIME Magazine" berichtete ebenso von den Blasen und Schwielen der Kinder. Sogar von einer Art Rohrstock ist in dem Bericht die Rede: Während sich Yu Lianming Ehemann durch die Reihen der Schülerinnen und Schüler schlängelt, hält er dem "TIME Magazine" zufolge einen langen roten Stock hinter seinem Rücken. Doch die Kinder scheinen sich über die drohende Prügelstrafe keine Sorgen zu machen, heißt es weiter.
Der nachträgliche Preis der Perfektion
Ohne zu klagen, bringen die chinesischen Spitzensportler und Spitzensportlerinnen Bestleistungen. Doch auch das hat einen Preis. Dazu gehören Muskelverletzungen. Oft erkranken die Wasserspringer und Wasserspringerinnen wegen der langen Zeit, die sie während des Trainings im Wasser verbringen, aber auch an den Augen, wie "TIME Magazine" schreibt.
Auch eine ehemalige Schülerin der Trainerin Yu Lianming musste demnach für Olympia-Gold Schmerzen ertragen: Anfang der 2000er hatte die Trainerin Yu Lianming das Talent der damals siebenjährigen Liu Huixia entdeckt. Bei den Vorbereitungen für Rio erlitt sie kurz vor den Spielen Ende Juli im Trainingszentrum eine schwere Schulterverletzung. Dennoch erwartete das Team, dass sie durchhalten und weitermachen würde. Was Liu Huixia auch tat: Gemeinsam mit Chen Ruolin gewann sie für China im Synchronspringen vom Zehn-Meter-Turm der Frauen Gold.
Auch bei den Olympischen Spiele 2024 in Paris will das chinesische Wasserspring-Team nun endlich ihr langjähriges Ziel erreichen: Alle acht Goldmedaillen sollen an Wasserspringer und Wasserspringerinnen aus China gehen. Doch dafür müssen sie in den kommenden Wettkampftagen weiter perfekte Sprünge liefern.
Quelle: ntv.de, rwe