"Vielleicht ist es Schicksal" Schlaganfall macht aus Olympionikin eine Para-Ruderin
29.08.2024, 17:10 Uhr
Kathrin Marchand rudert, seitdem sie 14 Jahre alt ist. Nach zwei Olympia-Teilnahmen in London 2012 und Rio 2016 beendet sie ihre Karriere im Leistungssport. Gerade, als sie als Ärztin zu arbeiten beginnt, hat Marchand einen Schlaganfall. Nach einer Reha will sie nicht nur wieder als Ärztin arbeiten, sondern auch zurück ins Boot. In Paris rudert die 33-Jährige bei den Paralympics im Vierer um eine Medaille. Im Interview mit ntv.de spricht sie über ihre Ziele und ihren Weg zurück zum Rudern.
ntv.de: Am 1. September werden Sie im Vierer bei den Paralympischen Spielen starten. Es ist auch der Tag, an dem Sie vor drei Jahren Ihren Schlaganfall hatten. Wie ist es für Sie, genau an diesem Tag anzutreten?
Kathrin Marchand: Am Anfang dachte ich, was für ein komischer Zufall. Dass der Finaltag genau auf den Tag fallen wird, an dem ich einen Schlaganfall hatte. Es gibt 365 Tage im Jahr und genau dieser Tag wird jetzt doppelt belegt. Ich sehe es aber nicht als schlechtes Omen. Vielleicht ist es auch Schicksal. Ich werde versuchen, etwas Gutes aus dem Tag zu machen. Mich motiviert das.
Was hat sich nach Ihrem Schlaganfall für Sie verändert?
Bis zu meinem Schlaganfall habe ich gedacht, dass ich ein gesunder Mensch bin. Und plötzlich war ich krank. Ich kann viele Sachen nicht mehr machen. Zudem habe ich eine Erkrankung, die nicht typisch für mein Alter ist. Nach dem Schlaganfall bin ich in die Reha gefahren. Dort waren alle Menschen um mich herum Ü70. Für mich war es nicht leicht zu erkennen, dass ich genauso Patientin bin, wie alle anderen auch - nur dass ich knapp 40 Jahre jünger bin als die meisten. Viele hatten zudem noch verschiedenste andere Erkrankungen. Ich bin sehr ungern in die Reha gegangen.
Warum?
Es war für mich wie ein Spiegel, der mir immer wieder vorgehalten hat, dass ich wirklich krank bin. Das war früher in meinem Leben eigentlich nie ein Thema, Dinge nicht machen zu können. Ich musste mich zurück in den Alltag kämpfen.
Wie haben Sie das gemacht?
Ich wollte aus der schweren Situation etwas Positives herausziehen: Ich habe den Kopf nicht hängen lassen. Ich bin viel zu jung, um zu sagen, ich gehe nicht mehr arbeiten und bin den ganzen Tag zu Hause. Da wäre ich eingegangen wie eine Primel. Für mich war klar, ich will noch nicht von der Rente leben.
Und wie ist es für Sie heute?
Mittlerweile habe ich in den Alltag zurückgefunden: Ich arbeite vormittags bis 12.30 Uhr an vier Tagen in der Woche. Danach fahre ich nach Hause, mache Mittagspause und ruhe mich aus. Und nachmittags gehe zum Training - mehr schaffe ich auch gar nicht. Dass es so scheint, als würde ich nicht scheitern, liegt vor allem daran, dass ich Dinge mache, die mir liegen, wie zum Beispiel das Rudern. Rudern ist eine schöne Sportart, es ist so harmonisch, draußen in der Natur. Für mich ist Rudern meditativ. Ich kann beim Rudern gut abschalten. Im Boot konzentriere ich mich auf diese eine Bewegung. Dann vergesse ich auch mal die Sachen, die sonst so an Land passieren.

Bei den Olympischen Spielen 2016 holte Marchand im Zweier mit Kerstin Hartmann den achten Platz.
(Foto: picture alliance / dpa)
Und warum haben Sie 2016 mit dem Rudern aufgehört?
Nach den Olympischen Spielen in Rio 2016 habe ich mit dem Leistungssport aufgehört. Ich stand damals an einem Wendepunkt. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass ich wahrscheinlich nicht mehr viel besser werde. Ich hätte mich vielleicht noch für Tokio qualifiziert, aber dann wäre ich wieder hingefahren, um vielleicht wieder im B-Finale zu rudern. Ich hatte einfach keine Lust mehr, dafür so viel zu investieren.
Warum?
Ich wollte mein Studium fertig machen, weil man mit Sport einfach gar kein Geld verdient. Auch für die Teilnahme an den Paralympics habe ich mir zwei Monate unbezahlten Urlaub nehmen müssen. Und nachdem ich damals angefangen habe, als Ärztin zu arbeiten, hatte ich den Schlaganfall.
Und dann konnten Sie nicht mehr arbeiten?
Ja. Nach dem Schlaganfall konnte ich neun Monate nicht arbeiten und hatte viel Zeit. Ich habe mich an früher erinnert, weil mir rudern immer sehr viel Spaß gemacht hat. Da habe ich angefangen darüber nachzudenken, wieder ins Boot zu steigen.
Und wie kam es dann dazu, dass Sie wieder ins Boot gestiegen sind?
Meine Nachbarin rudert auch. Sie hat mich immer mal wieder mitgenommen. Während sie im Boot saß, bin ich gelaufen. Sie hat mich ermutigt und gesagt, komm, steig doch mal wieder ins Boot. Und irgendwann habe ich es schließlich ausprobiert. Es hat geklappt und Spaß gemacht.
Sie haben eine Seheinschränkung. Wie gut müssen Sie sehen, um zu rudern?
Im Alltag ist meine Sehfähigkeit für mich die größte Einschränkung. Ich sehe auf beiden Augen ein Drittel nicht. Das visuelle Lernen klappt nicht mehr. Neue Bewegungsabläufe nachzumachen, fällt mir total schwer. Aber rudern konnte ich schon. Ich musste die mir bekannten Bewegungsabläufe nur abrufen. Trotzdem war es am Anfang ungewohnt.
Was genau war anders?
Ich hatte das Gefühl, links neben mir ist eine Wand, es ist alles dunkel. Was links von mir passiert, kriege ich im Boot nicht mehr mit. Auch die Gegner auf dieser Seite sehe ich nicht. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen.
Wie sind Sie schließlich zum Para-Sport gekommen?
Als ich Berichte über die Paralympischen Winterspiele in Peking im Radio gehört habe, kam mir die Idee. Ich dachte, vielleicht könnte das eine Option für mich sein. Und da habe ich es ausprobiert, mich für die Klassifizierung zu bewerben.
Wie genau funktioniert das?
Ich dachte, wenn ich klassifiziert werde, dann über meine Seheinschränkung. Aber das hat nicht funktioniert. Ich sehe zu viel. Einer Person muss mindestens die Hälfte vom Sichtfeld fehlen. Das Thema war für mich damit eigentlich gegessen.
Eigentlich?
Anna Rohde, sie ist zuständig für die nationalen Klassifizierungen im Rudern, auch bei uns im Verein, hat mich dazu ermutigt, dass wir die Klassifizierung über meine Koordinationsschwäche beantragen. Beiläufig hatte ich ihr einmal erzählt, dass mir beim Rudern die Rechts-Links-Koordination schwerfällt und dass ich das Ruder mit der linken Hand nicht so gut festhalten kann. Für mich waren das nur Kleinigkeiten. Obwohl das Thema für mich durch war, habe ich mich dank ihres Zuspruchs darauf eingelassen. Ich habe mich über meine linksseitigen Koordinations- und Kraftschwäche beworben.
Und dann?
Zuerst musste ich mich von einem Neurologen untersuchen lassen. Der hat die medizinische Diagnose bestätigt. Damit habe ich mich für die Klassifizierung angemeldet und wurde eingeladen. Bei meinem Klassifizierungs-Termin waren ein Arzt und eine technische Klassifiziererin, die ruder-spezifisch guckt, anwesend. Der Arzt hat mich untersucht, meine Kraftgrade gemessen und geschaut, wie stark ich meinen Arm beugen kann. Zudem musste ich Koordinationsübungen machen. Die Prüfer beobachteten, wie gut ich bestimmte Bewegungsabläufe umsetzen kann und wo es Schwierigkeiten gibt. Dafür verteilten sie Punkte. Am Ende musste ich noch vorrudern. Dabei hat die Ruder-Klassifiziererin beobachtet, inwiefern meine Einschränkungen sich auf mein Rudern auswirken. Es gibt klare Vorgaben, wofür es Punkte gibt. Und am Ende haben mir genug Punkte gefehlt, dass ich klassifiziert wurde.
Es wird Ihre dritte Teilnahme bei den Spielen unter den Ringen sein, aber Ihre erste bei Paralympics. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Ich freue mich auf die Wettkämpfe. Die sind immer etwas Besonderes, weil die Spiele nur alle vier Jahre stattfinden. Und abseits der Wettkämpfe freue ich mich auf das gemeinschaftliche Leben im Paralympischen Dorf und in der Stadt Paris. Frankreich und allen voran Paris wird uns mit offenen Armen empfangen.
Aber die Ruderwettkämpfe finden nicht in Paris statt, sondern in Vaires-sur-Marne.
Wir schlafen im Paralympischen Dorf und wir shutteln mit dem Bus für das Training und die Wettkämpfe nach Vaires-sur-Marne. Pro Weg ist das leider eine Stunde Fahrt. Das ist ein bisschen ungünstig. Ich finde es schön, dass wir im Dorf übernachten und wohnen. Weil wir so auch das Flair mitbekommen. Diese Vielfalt auf sich wirken zu lassen, das wird bestimmt cool.
Was sind Ihre Ziele?
Im Idealfall schaffen wir es im Vierer auf das Podium. Das wäre schön, aber es wird schwer.
Warum könnte es schwer werden?
Die Paralympischen Spiele werden nicht einfach: Dieses Jahr war wegen vieler Verletzungen, Krankheitsausfälle und Wettkampfabsagen durchwachsen. Aber trotzdem ist es unser Ziel, eine Medaille zu holen. Wir wollen das, was wir in den vergangenen Jahren gemacht haben, fortsetzen.
Haben Sie auch Angst?

Bei den Olympischen Spiele in London 2012 belegte Marchand im deutschen Frauenachter Platz 7.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Dieser Mythos der Olympischen Spiele und auch der Paralympischen Spielen, dass sie nur alle vier Jahre stattfinden, macht die Wettkämpfe zu etwas besonderen. Als ich angefangen habe zu rudern, hatte ich das Gefühl, wenn ich an einem solchen Großereignis teilnehmen darf, muss ich dort auch besonders gut sein. Das ist nicht richtig, weil ich nichts anderes machen muss. Ich muss das machen, was ich im Training übe. Trotzdem bin ich nervös vor dem Rennen. Ich will meine beste Leistung abrufen. Aber das führt manchmal dazu, dass der Druck einfach zu groß ist.
Wie gehen Sie individuell mit dem Druck um?
Ich bin ab und zu in Kontakt mit einer Sportpsychologin. Sie hilft mir, mich mental auf den Wettkampf vorzubereiten. Sie gibt einem viele Tipps, die ich in Paris dann befolgen kann.
Welche zum Beispiel?
Ich gehe das Rennen vorher schon im Kopf durch und mache mich mit der Situation vertraut. Dazu gehört auch, mich an die Umgebung zu gewöhnen und zu lernen, mich zu konzentrieren und alles, was drumherum passiert, auszublenden.
Wie gehen Sie und Ihr Team mit dem Druck um?
Ich habe großen Respekt davor, dass wir als Team vor dem Rennen zu nervös sind. Ich bin genauso aufgeregt und nervös wie die anderen. Aber ich bin in unserem Team diejenige mit der meisten Erfahrung im Rudern. Das versuche ich auszustrahlen und den anderen zu vermitteln, dass wir auf einem guten Weg sind. Im Training kriegen wir das gut hin - das schaffen wir im Wettkampf auch.
Da müssen Sie gut als Team zusammenarbeiten und sich auf die anderen verlassen können. Wie ist es für Sie im Vierer-Team zu rudern?
Mir macht es viel Spaß, im Team zu rudern. Wir motivieren uns gegenseitig. Ich habe immer einen Grund zu trainieren, weil ich für die Mannschaft mein Bestes geben will. Natürlich mussten wir als Mannschaft zusammenfinden. Wir kennen uns schon seit drei Jahren und wissen, wer von uns wie tickt. Es ist schön, dass niemand allein herumdümpelt.
Was machen Sie nach dem Wettkampf?
Nach unserem Wettkampf bleibe ich bis zum Ende der Paralympics. Ich will mir andere Sportarten anschauen und das Flair von den Spielen genießen. Ich freue mich auch auf die Abschlussfeier. Die Zeit nehme ich mir, weil ich sie mir erarbeitet habe. Denn der Weg zu den Paralympischen Spielen war schon anstrengend. Deshalb haben wir es uns verdient, dort nicht nur abzuliefern, sondern auch etwas mitzunehmen. Und ab dem 23. September muss ich wieder arbeiten.
Mit Kathrin Marchand sprach Rebecca Wegmann
Quelle: ntv.de