Die unersättlichen Fußballfeinschmecker Spaniens Ballkunst lässt Italien weinen
02.07.2012, 06:49 Uhr
Der Jubel in Madrid ist grenzenlos.
(Foto: dpa)
Sie legen Wert auf feinste Qualität, und doch treibt sie eine maßlose Gier nach Titeln. Spaniens Fußballer zelebrieren in Kiew eine Gala, zeigen der Welt gegen einen guten, aber letztlich chancenlosen Kontrahenten, wie schön dieses Spiel sein kann - und freuen sich hinterher wie die Kinder. Langweilig sieht wirklich anders aus.

Mario Balotelli, die Kampfmaschine, zeigt seine Gefühle. Die Spanier haben auch ihn schwindelig gespielt.
(Foto: dpa)
Im richtigen Leben sind Genuss und Völlerei unvereinbar, wo das eine aufhört, fängt das andere an. Entweder bewusst Qualität erleben oder maßlos übertreiben. Kein Vielfraß kann ein Feinschmecker sein. In der Welt des Fußballs aber gibt es die Spanier. Mit 4:0 haben sie am Sonntagabend in Kiew das Endspiel der Europameisterschaft gegen Italien gewonnen. Und sie finden kein Ende. Höher hat in der Geschichte dieses Wettbewerbs noch nie ein Team ein Finale gewonnen. Gleichzeitig feierten die Spanier einen historischen Hattrick: Europameister 2008, Weltmeister 2010 und nun Europameister 2012. Erstmals hat ein Team den kontinentalen Titel erfolgreich verteidigt. Einzigartig. Und das mit dem besten Fußball, den die Welt zu bieten hat. Ein Genuss.
Vicente del Bosque, ihr Trainer, sah das ähnlich. Auch wenn er, bescheiden wie er auftritt, das nie so euphorisch sagen würde. Immerhin sagte er, nach der Leistung seiner Mannschaft gefragt: "Wir sprechen über eine großartige Generation von Fußballspielern. Wir wissen, dass es ein historischer Moment ist. Und wir sind sehr zufrieden damit. Wir haben ein großes Turnier gespielt und jetzt sind wir glücklich, den Titel feiern zu können." Sein italienischer Kollege Cesare Prandelli trug es mit Fassung. "Spanien hat uns dominiert, man muss gratulieren. Sie haben verdient Geschichte geschrieben und einen fantastischen Fußball gespielt. Wir haben mit Würde verloren."
Als nach einer Stunde der erst drei Minuten zuvor eingewechselte und mutmaßlich schlecht aufgewärmte Thiago Motta wieder vom Rasen musste, weil ihn Probleme am Oberschenkel plagten, war das Spiel beim Stand von 2:0 für Spanien gelaufen. Cesare Prandelli hatte bereits dreimal ausgewechselt und damit das Kontingent ausgeschöpft. Die Italiener mussten die letzte halbe Stunde mit zehn Spielern auskommen. Während die Fans der Iberer bereits sich und ihr Team mit Campeones!-Campeones!-Rufen feierten, hatte der alte und neue Euromeister wenig Mühe, durch Tore von Fernando Torres und Juan Mata sechs und zwei Minuten vor Schluss auf 4:0 zu erhöhen, nachdem in der ersten Halbzeit vor 63.170 Zuschauern im ausverkauften Olympiastadion David Silva nach einer knappen Viertelstunde und Jordi Alba kurz vor der Pause getroffen hatten. Vicente del Bosque wäre nicht Vicente del Bosque, wenn er nicht mehrmals betont hätte, was für ein großes Pech die Italiener damit gehabt hätten. Er sagte aber auch: "Wir haben fast perfekt gespielt. Wir waren dominant, haben offensiv gespielt und hatten viel Ballbesitz."
Ballsicher am Rande der Perfektion
Dabei geht es nicht um die Höhe des Sieges, zumindest nicht nur. Nein, es geht um die Art und Weise, wie die Spanier ihr Kurzpassspiel zelebrierten, fix und ballsicher am Rande der Perfektion. Und das auch schon, als die Italiener noch in voller Mannschaftsstärke auf dem Platz und ein durchaus ebenbürtiger Gegner waren. Das Faszinierende an dem besten Team nicht nur dieses Turniers ist, dass es immer gleich spielt, nie von seinem Konzept abweicht. Dabei sind die Spanier selbst im Strafraum des Gegner so sehr Herren über den Ball, dass sie auch dort noch zu lockeren Dribblings ansetzen können. Wer das langweilig findet, dem sei gesagt: Das ist nicht der Punkt. Das Problem ist: Diese Spanier sind nicht aufzuhalten. Es ist das Problem der anderen. Sie haben es versucht, Italien beim 1:1 im Gruppenspiel noch am erfolgreichsten, die Iren waren beim 0:4 chancenlos, die Kroaten machten es beim 0:1 besser. Im Viertelfinale waren die Franzosen beim 0:2 chancenlos, die Portugiesen schafften es im Halbfinale immerhin mit einem 0:0 bis ins Elfmeterschießen. Aber letztlich haben sie alle verloren. Zufall ist das nicht. Aber ein Genuss. Und sie hören nicht auf damit.
Dabei können es sich die Spanier sogar leisten, wie im Finale mit Cesc Fabregas einen Spieler in der Angriffsmitte aufzubieten, der eigentlich im Mittelfeld zu Hause ist. Einfach weil er besser ins System passt. Weil er mitspielt und mit David Silva, Andrés Iniesta, Xavi Hernandez, Sergio Busquets und Xabi Alsonso ein Konglomerat aus Mittelfeld und Angriff bildet, in dem jeder alles macht und auch kann, offensiv und defensiv. Hinzu kommt Torwart Iker Casillas, der als weltbester seiner Zunft gilt und mithilfe seiner Abwehr im gesamten Turnier nur einen Gegentreffer zugelassen hat. Was aber zum Beispiel den linken Außenverteidiger Jordi Alba nicht daran hindert, mal eben bis vor des Gegners Tor zu sprinten, um dann auf Zuspiel von Xavi das 2:0 zu erzielen.
Falls sich irgendjemand gefragt, was Joachim Löw, Trainer der deutschen Nationalmannschaft und von Berufs sowie der Ästhetik wegen passionierter Spanienfan, damit meint, wenn er sagt: "Der Laufweg bestimmt den Pass. Und nicht umgekehrt" - bitteschön. Auch die DFB-Elf kann das mittlerweile gut, auch sie hat ein gutes Turnier gespielt. Aber eben kein sehr gutes. Dafür war die Unterlegenheit im Halbfinale gegen Italien zu deutlich. Vor allem aber hat die Mannschaft von Joachim Löw das nicht geschafft, was den Spaniern eindrucksvoll gelang: Die Iberer haben sich das Beste für den Schluss aufgehoben. Wie ein Feinschmecker, der erst die Beilagen isst und sich ein Stückchen Filet für die letzte Gabel aufhebt.
Satt sieht nun wirklich anders aus
Wer gedacht hatte, diese Spanier seien als amtierende Welt- und Europameister des Erfolgs überdrüssig und vielleicht nicht mehr ganz so gierig auf noch einen Titel, der muss spätestens nach dieser grandiosen Partie zugeben, dass er sich getäuscht hatte. Wenn nicht der Wunsch nach einem Ende der spanischen Dominanz der Vater des Gedankens war. Vergeblich. Satt sieht wirklich anders aus. So effizient die Spanier auch bisweilen auftrumpfen, sie sind mit Leidenschaft dabei, geeint in der Idee vom schönen Spiel. Und sie vergessen ihre Helden nicht. Der Auftritt von Fernando Torres in Kiew war der letzte große Tusch dieser an emotionalen Höhepunkten nicht gerade reich gesegneten Europameisterschaft. Fernando Torres, das ist der Stürmer, der im EM-Finale vor vier Jahren gegen Deutschland nach einer guten halben Stunde den Siegtreffer zum 1:0 erzielte. Fernando Torres, das ist der Mann, den Trainer Vincente del Bosque mittlerweile meist auf der Bank lässt, weil andere besser sind.
Doch nachdem das Spiel entschieden war, durfte auch er in diesem Finale mitmachen, die Fans feierten ihn stürmisch, als er eine Viertelstunde vor dem Ende der Partie den Rasen betrat. Und als er neun Minuten später das dritte Tor für seine Mannschaft erzielte, da haben sie ihn gefeiert, als sei es das 1:0 gewesen. Die Anhänger in der Kurve sowieso, aber auch alle Ersatzspieler und die Kollegen auf dem Feld liefen zu ihm an die Eckfahne, um sich mit ihn zu freuen. Und als Ferndando Torres kurz darauf auch noch den vierten und letzten Treffer vorbereitete, da strahlte er hinterher wie ein kleiner Junge, dem erstmals ein lange geübtes Kunststück am Ball gelungen ist. Nach dem Abpfiff feierte er dann mit seinen Kindern Nora und Leo auf dem Arm, beide im roten spanischen Trikot - mit der Nummer 9 des Papas auf dem Rücken. Später ist er zu seinen Kollegen gegangen, sie haben sich umarmt, sind im Kreis gehüpft, sie haben gelacht und getanzt. Sie haben es genossen. Und sie kriegen nie genug.
Quelle: ntv.de