Ökonomen zum EU-Gipfel "Die Angst ist verschwunden"
29.06.2012, 12:25 Uhr
Analysten beäugen die Ergebnisse: Ist das der große Durchbruch?
(Foto: REUTERS)
Der erste Tag des Brüsseler EU-Gipfels zieht sich bis weit in die Nacht: Im frühen Morgenlicht präsentieren die Euro-Retter schließlich weitreichende Beschlüsse. Die ersten Reaktionen an den Märkten sind positiv. Experten sehen die Ergebnisse allerdings zum Teil sehr skeptisch. Ein Überblick.

Scharfe Blick auf die Kurse: An den Märkten in Asien zeigten sich die Reaktionen auf die Brüsseler Nachtsitzung zuerst.
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Nach stundenlangen Verhandlungen haben die Regierungen der Eurozone am frühen Morgen den Weg für ein umfassendes Paket zur Stabilisierung der Währungsgemeinschaft frei gemacht. Die 17 Staats- und Regierungschefs vereinbarten unter anderem eine zentrale Bankenaufsicht für die Eurozone sowie eine Reihe von Maßnahmen, um den Zinsdruck von Ländern wie Italien und Spanien zu nehmen.
Die Kommentare der Finanzmarktprofis fielen höchst unterschiedlich aus. Während Volkswirte noch die politischen Konsequenzen für Euro-Staaten wie Deutschland untersuchen, stürzen sich Fondsmanager und Anlagestrategen auf die unmittelbaren Auswirkungen an den Märkten.
"Die Banken können sich nun leichter in der Krise rekapitalisieren als das bisher der Fall war", erklärte Close-Brothers-Stratege Oliver Roth. "Bislang waren ja hauptsächlich die Nationalstaaten dafür verantwortlich. Diese Last ist den Staaten nun von den Schultern genommen, und damit wird zum Beispiel der Staatshaushalt von Spanien wesentlich entspannter." Auch die nordeuropäischen Staaten würden dadurch, so Roth, "entlastet". Die Zinsen auf italienische oder spanische Staatsanleihen dürften deutlich sinken. "Und das ist gut für die gesamten Geschäftsbeziehungen."
"Das positivste an diesem Gipfel ist, das jeder den Sieg für sich in Anspruch nehmen kann", hielt Hedgefonds-Manager Lex van Dam dagegen. "Es bleibt abzuwarten, ob die wahren Probleme damit gelöst werden können."
"Die Eurozone ist nicht tot. Die Leute sind erleichtert", beschrieb David Thebault, Chef-Händler von Global Equities in Paris, den aus seiner Sicht zentralen Wirkmechanismus. "Wir bewegen uns langsam in Richtung Eurobonds. Die Art und Weise, wie die Politiker kommunizieren und die Markterwartungen managen, wird viel besser. Wir machen Fortschritte, es ist aber noch nicht die Wende in dem Spiel." Anleger dürften ihre Aufmerksamkeit nun, so Thebault weiter, auf die Ratssitzung der Europäischen Zentralbank in der kommenden Woche richten. "Die großen Hoffnungen auf eine Zinssenkung sollten die Aktienkurse stützen."
Das erste Echo an den Märkten zeugte von der Erleichterung der Anleger. "Die Märkte reagieren positiv, weil sie sehen, dass die Hilfsmaßnahmen für Italien und Spanien verstärkt werden", sagte Darius Kowalczyk, Volkswirt bei der französischen Großbank Credit Agricole in einer ersten Einschätzung. "Allerdings waren die Erwartungen niedrig, daher könnte die aktuelle Reaktion nur vorübergehend sein."
Bei den Investoren in Asien kamen die Pläne offenbar gut an. Die Börsen in Japan, Taiwan, China und Südkorea legten deutlich zu. Der Euro stieg über die Marke von 1,25 Dollar. In Deutschland bemühten sich Ökonomen um eine Einordnung der Beschlüsse.
"In einer turbulenten Nachtsitzung haben sich die Regierungschefs überraschend grundsätzlich darauf geeinigt, den Banken der hochverschuldeten Krisenländern künftig direkt Hilfen zu gewähren und damit deren Staatshaushalte zu entlasten", fassten Jörg Krämer und Christoph Weil von der Commerzbank den harten Kern der Ergebnisse zusammen.
"Gemeinsame Anleihen tauchen nach Merkels klarem Nein nicht im Kommuniqué des Gipfels auf", betonten die Coba-Ökonomen. "Wir bleiben allerdings bei unserer Prognose, dass Deutschland solchen Anleihen am Ende zustimmen dürfte, wenn die Existenz der Währungsunion gefährdet wäre."
Asiens Analysten atmen auf
Ihre Kollegen aus dem fernen Osten reagierten deutlich zuversichtlicher. "Die Gefahr einer unmittelbaren Verschärfung der Bankenkrise in der Eurozone ist nun zumindest abgewendet", stellte Vishnu Varathan, Volkswirt bei der Mizuho Corporate Bank, fest. "Auch wenn eine finale Lösung der Krise noch aussteht, ist die Angst, dass der Gipfel scheitern könnte, aus dem Markt verschwunden."
Doch auch in Asien mischte sich Skepsis in die Erleichterung. "Es ist noch unklar, worauf man sich genau geeinigt hat", betonte Sumitomo-Mitsui-Ökonom Ayako Sera. "Daher müssen wir die Debatte am zweiten Tag des Gipfels abwarten."
Das Angst-Barometer fällt
Eine Erklärung für die unmittelbar positive Reaktion an den Märkten steuerte ein Händler aus London bei. "Der Markt ist ein bisschen überrascht, dass etwas substanzielles bei dem Gipfel herausgekommen ist", sagte Tim Waterer, Händler bei CMC Global Markets. Doch auch er zweifelte an der Dauer der positiven Wirkung. "Die Details zum Zeitrahmen der Umsetzung dieses Plans wird darüber entscheiden, ob die aktuellen Kursgewinne nachhaltig sind".
Die Beschlüsse zur Bildung einer europäischen Bankenunion sorgten an den europäischen Aktienmärkten auch für handfeste Anzeichen der Erleichterung. Die Volatilitätsindizes VDax und VStoxx, die die Nervosität der Anleger messen, fielen in der Spitze um jeweils etwa zehn Prozent. Im Gegenzug legten und Eurostoxx50 auf denen VDax und VStoxx basieren, zeitweise um bis zu drei Prozent zu.
"Die Einigung auf eine direkte Rekapitalisierung der Banken ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung", sagte Koen De Leus, Anlagestratege bei KBC Securities. "Es durchbricht die teuflische Spirale zwischen insolventen Banken und ihren Regierungen. Das ist zwar nicht die Wende im Spiel, aber eine Wende der Stimmung."
Bundesanleihen ziehen an
Auch an den Kapitalmärkten zeigten sich deutliche Auswirkungen des Gipfels: Die reagierten mit einem massiven Rückgang der Zinssätze auf die Beschlüsse des EU-Gipfels.
In Brüssel hatten sich die Staats- und Regierungschefs der Eurozone in der Nacht zum Freitag darauf verständigt, den großen Spanien und Italien unter die Arme zu greifen. Darüber hinaus sollen künftig nicht nur Staaten, sondern auch Banken direkt auf die Rettungsfonds zugreifen können, sobald eine zentrale Finanzaufsicht installiert ist. Zudem wurde ein Wachstumspakt über 120 Mrd. Euro beschlossen.
Für Belastung sorgten die Gipfelbeschlüsse unterdessen bei Bundesanleihen, die bei den Anlegern als besonders sicher gelten. Die Kurse deutscher Staatsanleihen gerieten im Vormittagshandel stark unter Verkaufsdruck. Die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe sprang am Morgen um 0,15 Punkte auf 1,66 Prozent nach oben. Das ist der höchste Wert seit April.
Citi-Experten zweifeln
"Die Kursentwicklung geht über das hinaus, was gerechtfertigt ist", schränkten die Citigroup-Experten die Wirkungen des Gipfels ein. "Erstens bedarf es Klarheit darüber, wie und in welchen Fällen Regierungen den ESM in Anspruch nehmen können. Wenn es nur zur Rekapitalisierung von Banken ist, wäre es nicht weitgehend genug, um die zugrundeliegenden Belastungen zu lindern."
Zweitens blieben demnach "beträchtliche Umsetzungsrisiken". Die Regierungen müssten der EZB für ihre neuen Aufsichtsaufgaben Rechte übertragen. "Dies könnte sich als umstrittener herausstellen als es die unmittelbare Marktreaktion vermuten lässt. Nach derartigen Ankündigungen ist der anfängliche Optimismus verpufft, sobald sich die Politiker an die Details machen."
Bei der Citigroup, so heißt es in dem Marktkommentar weiter, würde sich niemand "wundern, wenn sich dieses Muster wiederholt."
Quelle: ntv.de, mmo/dpa/rts