Wirtschaft

Absturz bis zur Hungersnot? Wie die russische Wirtschaft implodiert

Viele Regale bleiben nach dem Rückzug westlicher Unternehmen derzeit in russischen Supermärkten leer.

Viele Regale bleiben nach dem Rückzug westlicher Unternehmen derzeit in russischen Supermärkten leer.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Dmitri Medwedew, der frühere Präsident von Russland, ist überzeugt, dass sein Land eine Antwort auf die schweren Sanktionen finden wird. Ein früherer Oligarch erklärt dagegen, dass Papier schon jetzt wertvoller als der Rubel ist. Ein russischer Historiker warnt bereits vor einer neuen Revolution.

Die westlichen Sanktionen werden keinerlei Auswirkungen haben, erklärte Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew vergangene Woche in einem Interview mit der russischen Nachrichtenagentur RIA. Sie würden auch nicht zu Unmut führen, sagt er. Im Gegenteil, verkündet er vollmundig. Die Sanktionen würden die russische Gesellschaft sogar festigen. Mehrere Videos, die in den sozialen Netzwerken hochgeladen wurden, zeichnen ein anderes, aber auch immer ähnliches Bild.

Offiziell gehen Russland die Grundnahrungsmittel nach dem Rückzug westlicher Unternehmen aus dem Land nicht aus. Dennoch scheinen sich Russinnen und Russen seit dem Angriff auf die Ukraine immer wieder um Lebensmittel wie Zucker streiten zu müssen. Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter scheinen in unterschiedlichen Supermärkten selbst zu filmen, wie sie eine kleine Ladung in einen Gang rollen. Es dauert nur einen kleinen Moment, bis Chaos ausbricht: Menschen rennen zum Zucker, versuchen, möglichst viele Packungen zu greifen, reißen sie sich gegenseitig aus der Hand, schubsen sich, schreien sich an.

"Beleidigung für das Papier"

Es ist schwer zu beurteilen, ob diese Zuckerkämpfe der neue Alltag in Russland sind oder, ob es sich doch nur um seltene Einzelfälle handelt. Vor dem Angriff auf die Ukraine gab es solche Videos jedenfalls nicht. Und diese Szenen sind nur ein Hinweis darauf, dass die westlichen Sanktionen dem Land sehr wohl so schwer zusetzen, dass die russische Wirtschaft implodiert.

Am lautesten stört der frühere Oligarch und heutige Putin-Gegner Michail Chodorkowski das Bild vom unbeeindruckten Russland. Er hat die wirtschaftliche Situation vergangenes Wochenende auf Twitter mit einem praktischen Beispiel dargestellt: "Im Laden kostet eine Packung DIN-A4-Papier mit 500 Blatt 2000 Rubel", schrieb Chodorkowski. "Ein Blatt Papier ist also nicht nur viermal so viel wert wie ein Rubel, sondern auch mehr als eine Aktie der russischen Großbank Sberbank an der Londoner Börse. Das heißt, zu behaupten, dass Putin Rubel und russische Aktien in Papier verwandelt hat, ist eine Beleidigung für das Papier."

An den Sanktionen beteiligen sich nicht nur die USA, die EU, Kanada, Japan und andere verbündete Staaten, sondern selbst historisch neutrale Nationen wie die Schweiz. Die Eidgenossen exportieren unter anderem ihre weltbekannten Luxusuhren, die man häufiger am Handgelenk von Staatschef Putin entdeckt, nicht mehr nach Russland. Anscheinend ein Affront, der eine sofortige Reaktion nach sich zog: Wie die "Neue Züricher Zeitung am Sonntag" berichtete, durchforstete der russische Geheimdienst die Moskauer Büros des Schweizer Uhrenherstellers Audemars Piguet und beschlagnahmte Luxusuhren im Wert von mehreren Millionen Franken. Ein Diebstahl, den die Schweizer Wirtschaft verkraften wird - anders als die russische Industrie die europäischen und amerikanischen Technologie-Sanktionen.

Awtowas zum Beispiel, der größte russische Autohersteller, musste seine Produktion schon Anfang März in zwei Fabriken einstellen und Tausende Arbeiter in den Zwangsurlaub schicken. Das Unternehmen, das unter anderem für Kultmarken wie Lada verantwortlich ist, hatte den Produktionsstopp im "Wall Street Journal" mit dem weltweiten Chipmangel begründet und erklärt, dass die Pause nur zwei Tage dauern werde.

Tatsächlich aber standen die Bänder der Zeitung zwei Wochen später immer noch still. Denn Awtowas gehört dem französischen Autobauer Renault und ist angewiesen auf Bauteile aus dem europäischen Ausland. "Wenn die Lieferungen gestoppt werden, muss auch die Produktion gestoppt werden", erklärte ein früheres Aufsichtsratsmitglied des Autobauers das Dilemma des russischen Konzerns.

Airline-Bosse schmeißen hin

Nicht viel besser scheint es der russischen Luftfahrt zu ergehen. Vergangenes Wochenende kündigte die Billigairline Pobeda an, dass sie 16 Maschinen stilllegen und ihre Flotte von 41 auf 25 Maschinen verkleinern müsse. "Sie hoffen, dass ihre Ersatzteile damit bis zum Jahresende reichen", übersetzte der Journalist Kevin Rothrock vom russischen Exilmedium Medusa ein Schreiben der Airline.

Ursache sind auch in diesem Fall die westlichen Sanktionen. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind russische Flugzeuge von Lufträumen wie dem europäischen oder amerikanischen ausgesperrt. Außerdem dürfen die beiden größten Flugzeughersteller der Welt, Airbus und Boeing, russischen Airlines keine Flieger mehr verkaufen. Technische oder personelle Unterstützung bei Wartungsarbeiten oder Ersatzteillieferungen ist ebenfalls untersagt. Eigentlich muss Russland auch geleaste Flugzeuge an die eigentlichen Eigentümer in Europa oder den USA zurückgeben, weigert sich bisher aber. Mehrere Hundert Maschinen gelten deshalb als gestohlen.

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Dennoch eine aussichtslose Situation, wie offensichtlich auch der Vizechef der größten russischen Airline Aeroflot erkannt hat: Mitte März schmiss Andrej Panow seinen Vorstandsposten hin und verließ das Land. "Weg aus Russland, weg von Aeroflot. Das alte Leben ist vorbei", schrieb er damals auf Facebook. Schneller war anscheinend nur der Chef von Podeba, der Billigairline mit der schrumpfenden Flotte: Andrey Kalmykov soll schon Anfang März gekündigt haben.

IT-Spezialisten kündigen in Scharen

Die beiden Luftfahrtmanager sind bei Weitem nicht die einzigen Russen, die derzeit das Land verlassen. Führungskräfte, Stars oder einfache, aber gut ausgebildete Bürgerinnen und Bürger suchen Zuflucht im Ausland. Der russische Verband für elektronische Kommunikation (RAEC) schätzt, dass seit Kriegsbeginn bereits 50.000 bis 70.000 IT-Spezialisten das Land verlassen haben. Bis Ende April könnten weitere 100.000 folgen, warnte der Verbandschef vorherige Woche bei einem Termin mit Abgeordneten im russischen Parlament.

Auch dem Finanzbereich läuft das Personal weg. Bei der russischen Zentralbank sollen laut dem Wirtschaftsportal Bloomberg in so kurzer Zeit so viele Angestellte gleichzeitig gekündigt haben, dass die Personalabteilung nicht mehr mit dem Sperren ihrer Accounts hinterherkam. Selbst Zentralbankchefin Elvira Nabiullina wollte nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine hinschmeißen, darf aber nicht: Sie muss die wirtschaftlichen Schäden reparieren, die Putin mit seinem Krieg angerichtet hat.

Anfang einer Abwärtsspirale?

Es gibt allerdings Probleme, auf die Zentralbankchefin Nabiullina keine Antwort haben wird. Zum Beispiel fehlen durch die Sanktionen in der Telekommunikationsbranche wichtige Bauteile von europäischen Unternehmen wie Nokia und Ericsson, berichtet die russische Nachrichtenplattform RBC. Deshalb wies das russische Digitalministerium jüngst die Telekomanbieter des Landes an, keine Verträge mehr mit unbegrenzten Datenpaketen anzubieten. Sonst könne das Mobilfunknetz überlastet werden, hieß es.

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Einschnitte, die der Anfang einer gigantischen Abwärtsspirale sein könnten, vermutet der russische Historiker Andrej Subow. "Sollte der Krieg länger dauern und viele Tote fordern, und sollte es zum Hunger kommen, was ich infolge der Sanktionen nicht ausschließe, dann kann der Unmut zum Aufstand führen", erklärte er im Gespräch mit ntv. "So, wie man es schon 1905 und 1917 erlebt hat", erinnerte er an zwei russische Revolutionen.

Ob es so weit kommt, weiß niemand. Das russische Präsidialamt hatte bereits vier Tage nach Kriegsbeginn zugegeben, dass die Sanktionen Spuren hinterlassen. Aber zuletzt gab sich Ex-Präsident Medwedew kämpferisch. Er sei überzeugt, dass die russische Regierung "adäquate Lösungen" für die Luftfahrt, Automobil- und IT-Industrie finden wird, erklärte er im Interview mit RIA. "Es wird aber schwierig werden", gab er immerhin zu. "Wir können uns auf niemanden verlassen, wir müssen diese Probleme allein lösen."

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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Quelle: ntv.de

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