Berichte über brutales Vorgehen So dreist enteignet Russland ukrainische Firmen
12.07.2023, 19:28 Uhr Artikel anhören
Melitopol unter russischer Flagge. Es gebe in der Region kein Unternehmen mehr, "das nicht mit dem Feind zusammengearbeitet hat", sagt Exil-Bürgermeister Fedorow.
(Foto: REUTERS)
Kurz nach Kriegsbeginn nehmen russische Truppen das ukrainische Melitopol ein. Dort ansässige Unternehmen werden laut einem Bericht des "Wall Street Journals" gewaltsam enteignet. Die Besatzer gehen dabei nach einem sich wiederholenden Muster vor.
Das südukrainische Melitopol war die erste größere Stadt, die von den russischen Besatzungstruppen eingenommen wurde. Sie übernahmen nicht nur die Kontrolle über die politischen Institutionen, sondern enteigneten auch zahlreiche lokale Unternehmer, wie eine Recherche des "Wall Street Journal" (WSJ) zeigt. Viele dieser Firmen seien später in russischen Registern aufgetaucht, firmierten aber unter neuen Inhabern. Demnach untersucht der ukrainische Sicherheitsdienst derzeit über 300 Fälle von Unternehmen, die in der Region Melitopol beschlagnahmt worden seien.
Diese Enteignungen sind laut dem "WSJ"-Bericht brutal abgelaufen. Am 27. März vergangenen Jahres, also rund einen Monat nach Kriegsbeginn, seien bewaffnete und mit Sturmhauben maskierte Männer vor der Firmenzentrale von Melitopol Cherry, einem der größten Obstunternehmen des Landes, vorgefahren. Das berichtet Pavlo Timofieiev, ein Anwalt der Firma, der US-Zeitung auf Grundlage von Zeugenaussagen. Die vermummten Männer hätten die Sicherheitsleute zusammengeschlagen, seien dann in die Büroräume eingedrungen und hätten schließlich erklärt, dass das Unternehmen verstaatlicht worden sei und von nun an russische Eigentümer habe.
Enteignung in zwei Schritten
Die gewaltsamen Übernahmen seien in der ganzen Stadt nach einem solchen Schema ablaufen, sagt Iwan Fedorow, der im Exil lebende Bürgermeister der Stadt, dem "WSJ". "Wenn der Manager oder Eigentümer nicht zustimmte, wurde er sofort gefangen genommen." Die Stürmung der Gebäude sei aber nur der erste Schritt. In Phase zwei werde dann das neue Management installiert.
So auch bei Melitopol Cherry. Einige Tage nach der Beschlagnahme sei den Arbeitern ein Mann vorgestellt worden, von dem gesagt wurde, er vertrete die neuen Eigentümer in Moskau, so Anwalt Timofieiev. Im Juni 2022 tauchte demnach das Unternehmen dann im öffentlichen russischen Firmenregister auf. Beim St. Petersburger Wirtschaftsforum im vergangenen Monat haben die neuen Eigentümer laut dem Bericht Broschüren ausgegeben, in denen sie die Früchte von Melitopol Cherry als russische Produkte anpriesen. Zudem würden diese zum Teil weiter an alte Kunden aus dem Ausland verkauft.
Produktion für russisches Militär
Andere beschlagnahmte Unternehmen seien auf militärische Produktion umgestellt worden. Eine Melitopoler Fabrik für Traktorersatzteile, die auch Munition für die ukrainische Armee produziert hatte, sei ebenfalls von bewaffneten Männern übernommen worden, sagt der geflohene Eigentümer Anatoli Kusmin der Zeitung. Laut ihm haben sie gemeinsam mit von Russland unterstützten lokalen Beamten Fahrzeuge, Inventar und sogar eine Toilettenschüssel gestohlen. Auch Kusmins Unternehmen werde nun von einem St. Petersburger Geschäftsmann geführt und stelle Artilleriegeschosse für Russland her.
Das Konglomerat der Isatex Invest Group aus Melitopol sei indes von den Russen in zwei Teile aufgespalten worden. Ein großes Industriegelände wird laut dem im Exil lebenden Vorstandvorsitzenden Oleksiy Fokadi von den russischen Truppen als Militärbasis genutzt, sagt er dem "WSJ". Bürogebäude und ein Hotel seien dagegen von russischen Regierungsmitarbeitern beschlagnahmt worden.
"Heute gibt es in der Region Melitopol kein einziges Unternehmen mehr, das nicht auf die eine oder andere Weise mit dem Feind zusammengearbeitet hat", so Bürgermeister Fedorow. Laut WSJ haben sich die zwangsenteigneten Eigentümer zusammengetan und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Klage gegen die neuen russischen Besitzer eingereicht. Deren Kunden rufen sie dazu auf, die betroffenen Unternehmen zu boykottieren. Der Sicherheitsdienst der Ukraine vermutet, dass bei den Enteignungen auch der russische Geheimdienst FSB und hochrangige Militärs beteiligt sein könnten.
Quelle: ntv.de, mdi