Bürger spüren Sanktionen wenig Warum bricht Russlands Wirtschaft nicht ein?
06.01.2024, 13:32 Uhr Artikel anhören
Russland will auch in diesem Jahr wieder massiv in die Rüstungsindustrie investieren.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Russlands Wirtschaft wurde durch einen starken Anstieg der Verteidigungsausgaben und kriegsbedingter Produktionen angekurbelt. Allerdings kämpft das Land mit hohen Zinsen. Zudem hemmt die hohe Inflation und der Arbeitskräftemangel die Wirtschaft. Die russische Regierung wird nicht müde, sich mit der Widerstandsfähigkeit seiner Wirtschaft zu brüsten. Es scheint, als könnten die Sanktionen Russland nichts anhaben. Im Interview mit ntv.de ordnet Russland-Experte Michael Rochlitz die angebliche Stabilität ein und erklärt, welchen Preis Putin dafür zahlt.
ntv.de: Seit dem 23. Februar 2022 hat die EU inzwischen insgesamt zwölf Sanktionspakete beschlossen. Wie geht es der russischen Wirtschaft heute, knapp zwei Jahre später?
Michael Rochlitz: Erstaunlich gut. Sie ist viel krisenfester als zunächst angenommen. Ende Februar 2022 sind Experten noch davon ausgegangen, dass die russische Wirtschaft bis Ende des Jahres um bis zu 15 Prozent einbrechen wird. Das war nicht der Fall. Letztendlich musste Putin nur ein Minus von 5 Prozent verbuchen.
Wie kann das sein?
Die russische Wirtschaft ist krisenerprobt. Das ist ihr jetzt sehr zugutegekommen. Die Finanzkrise 2008, Sanktionen im Rahmen der Krim-Annexion 2014 und die Corona-Pandemie 2020 haben das Land zwar durchaus unter Druck gesetzt. Während dieser ganzen Krisen ist es Russland aber gelungen, kompetente Regionalverwaltungen aufzubauen, die wissen, was in solchen Ausnahmesituationen zu tun ist.
Es scheint, als könnten die Sanktionen Russlands Wirtschaft fast nichts anhaben.

Michael Rochlitz ist Professor für die Volkswirtschaften Russlands, Osteuropas und Eurasiens am St. Antony's College der Universität Oxford.
Eine Wirtschaft, die ständig nur auf Krisen reagiert, kann langfristig nicht gesund wachsen. Russlands Wachstum war in den Jahren 2012 bis 2022 mit einem Prozent viel zu niedrig für eine Volkswirtschaft mit einem solchen Potenzial. Das Land ist zwar immer krisenfester geworden, der Kreml hat dafür allerdings ein höheres, gesünderes Wachstum geopfert.
Was hat der russischen Wirtschaft noch geholfen, einen Schock abzuwenden?
Einerseits hat die russische Zentralbank sehr kompetent reagiert. Sie hat Anfang März 2022 nicht nur den Leitzins radikal auf 20 Prozent angehoben, sondern auch kurzzeitig Exportkontrollen für Kapital verhängt und das Land so in ein künstliches Koma versetzt. Dadurch konnte der erste Schock der Sanktionen abgefedert werden. Andererseits ist es Russland gelungen, die Exportkontrollen auf Gas und Öl abzufedern, indem man eine ganze Flotte Schattenschiffe aufgebaut hat, die Öl trotzdem exportiert hat.
Ist die Sanktionspolitik gegen Russland gescheitert?
Aus ökonomischer Sicht sind die Sanktionen sinnvoll. Sie schaden der russischen Volkswirtschaft und erschweren es Russland, diesen Krieg zu führen. Dass Russland den Krieg trotz absehbarer langfristiger volkswirtschaftlicher Schäden führt, ist eine politische Entscheidung des Kremls. Seit Ende 2022 sehen wir, dass Russlands Regierung massiv die ganze Volkswirtschaft auf eine Kriegswirtschaft umstellt. Davon will Putin so schnell auch nicht wieder abrücken. Russland plant im kommenden Jahr 40 Prozent seines Haushalts allein in die Rüstungsindustrie zu investieren. Das ist Wahnsinn.
Was bedeutet eine Umstellung auf Kriegswirtschaft genau?
Putin hat die Investitionen in den Rüstungssektor massiv angehoben. Das hat erstmal zu einem großen Defizit, aber gleichzeitig auch zu einer Nachfrage nach Arbeitskräften geführt. Anfang 2023 hat man gedacht: Das kann die russische Wirtschaft nicht durchhalten. Inzwischen ist klar, im vergangenen Jahr hat der Investitionsanstieg im Rüstungssektor die russische Wirtschaft um 3,5 Prozent wachsen lassen.
Welche Gefahren birgt diese Strategie?
Das zeigt ein Blick in die Vergangenheit ganz gut. Die Sowjetunion hat im Wettbewerb mit den USA eine Kriegswirtschaft aufgebaut, die viel zu groß für die wirtschaftliche Fähigkeit des Landes war. Daran ist die UdSSR zum Schluss auch gescheitert. Und genau dieses Problem beobachten wir derzeit wieder. Russland opfert momentan außerdem die Diversifizierung seiner Wirtschaft. Putin baut mit der Rüstungsindustrie gerade einen Sektor auf, der keine Zukunft hat. Sobald der Krieg vorbei ist, muss die Rüstungsindustrie wieder schrumpfen. Das wird ein großes innenpolitisches Problem, weil sehr viele Lobbygruppen daran interessiert sind, diese Pfründe zu behalten. Mögliche Zukunftsbranchen wie der IT-Sektor, künstliche Intelligenz, aber auch Gesundheit und Wissenschaft leiden darunter. Diese Branchen sind aber essenziell, um Russland zukunftsfähig zu machen, auch gerade für die Zeit nach Öl und Gas.
Russland ist bei Nahrungsmitteln, wichtigen Mineralien, Metallen und Energie autark. Inwiefern leiden die Russen überhaupt unter den Sanktionen?
Die einfachen Bürger in Russland merken von den Sanktionen zurzeit noch nicht so viel. Dadurch, dass so viel Geld in die Wirtschaft gepumpt wird, geht es ihnen sogar erstmal besser. Während sich die Regierung mit der Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft brüstet, führen die massiven Investitionen aber auch zu hoher Inflation. Die Kaufkraft der Russen lässt dementsprechend nach. Kurz vor Weihnachten haben sich viele Verbraucher über die hohen Eierpreise beschwert.
Viele Männer müssen im Krieg kämpfen oder sind aus Angst vor einem Fronteinsatz mit ihren Familien ins Ausland geflohen. Welche Konsequenzen hat das?
Die Mobilisierung von Reservisten und die Flucht vieler Russen ins Ausland ist schon jetzt ein riesiges Problem für den Arbeitsmarkt. Gerade der IT-Sektor leidet unter dem Fachkräftemangel. Viele, die Russland den Rücken gekehrt haben, sind hoch qualifizierte Arbeitskräfte, und werden nicht wieder zurückkommen. Unternehmen sehen sich deswegen jetzt gezwungen, höhere Löhne anzubieten.
Auch zahlreiche Unternehmen aus westlichen Ländern haben sich seit Beginn des Ukraine-Konflikts aus Russland zurückgezogen. Wie gut kann die russische Wirtschaft das kompensieren?
Dem Land gehen dadurch große Wettbewerbschancen im Hightechsektor verloren. Gerade die pharmazeutische Industrie und der Automobilsektor leiden unter dem Abgang. Inzwischen werden gar keine Autos mehr mit westlicher Technologie in Russland gebaut. Stattdessen wird billig in China eingekauft. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in anderen Sektoren zu beobachten. Der Krieg hat den Hightechsektor dazu verdammt, auf einem technologisch sehr niedrigen Level, zu bleiben.
Eigentlich sollten die Sanktionen Putin den wirtschaftlichen Boden für die Invasion in der Ukraine entziehen. Doch die Rohstoffgroßmacht hält vor allem mit den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft mit China und Indien seine Kriegswirtschaft am Laufen. Wieso ist es nicht gelungen, Russland wirtschaftlich zu isolieren?
Russland hat sehr geschickt die Ressentiments, die gegen die USA existieren, weiter befeuert und so verhindert, dass Länder wie China und Indien die Sanktionen unterstützen. Dort wird der Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht als ein großes Problem angesehen. Russland hat es geschafft, Länder zu mobilisieren, die ihre eigenen Probleme haben und gern weiter billiges Öl aus Russland einkaufen wollen. Das ansteigende Konfliktpotenzial zwischen dem Westen auf der einen Seite und dem globalen Süden und gerade Ländern wie Indien, China, Brasilien auf der anderen Seite hat dafür gesorgt, dass es nicht gelungen ist, eine gemeinsame Front gegen Russland aufzubauen, um die Sanktionen effizient durchzusetzen.
Laut dem russischen Ökonomen Vladislav Inozemtsev ist die vereinfachte Annahme von John McCain, dass Russland "eine Tankstelle ist, die sich als Land ausgib", der Grund für den Misserfolg der Sanktionen. "Der Hauptfehler westlicher Experten und Politiker bestand darin, das Märchen zu verbreiten, die gesamte russische Wirtschaft sei staatlich gelenkt", hat Inozemtsev kürzlich gesagt. Was ist an dieser Erklärung dran?
Dass Russland marktwirtschaftlicher agiert, als vielleicht viele Experten angenommen haben, würde ich nicht sagen. Momentan können wir eine Rückkehr zu mehr staatlicher Einflussnahme auf die Wirtschaft beobachten. Auf vielen Ebenen mag die russische Wirtschaft noch nach marktwirtschaftlichen Prinzipien funktionieren. Die Sanktionen waren aber darauf ausgelegt, es Russlands Hightech-Verteidigungsindustrie schwerer zu machen. Und da haben die Sanktionen schon funktioniert. Das Land ist inzwischen nicht mehr in der Lage, in großen Mengen top ausgestatte Panzer zu bauen. In der Ukraine sehen wir nur noch Panzer aus den 70er und 80er Jahren, die ohne westliche Technologie gebaut werden können.
Wie lange kann der Kreml den Krieg noch finanzieren?
Russland kann den Krieg mit seiner Kriegswirtschaft auf diese Art und Weise noch zwei, drei Jahre weiterführen. Damit produziert Putin die Ukraine momentan an die Wand. Die Ukraine hat zwar den Willen für ihr Überleben zu kämpfen, aber es fehlen ihr die Ressourcen. Deswegen müsste der Westen die Ukraine stärker unterstützen als bisher.
Mit Michael Rochlitz sprach Juliane Kipper
Quelle: ntv.de