Wirtschaft

Experte: Geiz bleibt geil "Ein paar Cent mehr Zollgebühren können Temu nichts anhaben"

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Schätzungen zufolge sind im vergangenen Jahr zwei Milliarden Pakete mit einem Warenwert von unter 150 Euro aus Drittstaaten in die Europäische Union gekommen.

Schätzungen zufolge sind im vergangenen Jahr zwei Milliarden Pakete mit einem Warenwert von unter 150 Euro aus Drittstaaten in die Europäische Union gekommen.

(Foto: picture alliance / Sipa USA)

Um Billigimporte aus China einzudämmen, will die EU die Zollfreiheit für kleinere Sendungen abschaffen. Schon bald könnte die Schwelle von 150 Euro fallen. "Dass Konsumenten deswegen nicht mehr bei Temu kaufen, ist illusorisch", sagt Handelsexperte Jörg Funder im Interview mit ntv.de.

ntv.de: Die Kommission will die 150-Euro-Grenze auf zollfreie Ware kassieren. Wird das die Flut an Päckchen eindämmen?

Jörg Funder: Die Forderung nach höheren Zöllen, um Temu und Shein auszubremsen, zeigt, dass die EU die Dynamik des Internets nicht versteht. Glaubt man den Unternehmen, wird die Abschaffung keine Konsequenzen haben. Beide Anbieter beanspruchen für sich, dass sie bereits jetzt die geltenden Zollregularien einhalten. Im Moment erreichen uns täglich fast 200.000 Pakete aus China. Im vergangenen Jahr waren es knapp zwei Milliarden Pakete mit einem Warenwert von weniger als 150 Euro. Dass die Abschaffung der Zollgrenze daran etwas ändert, bezweifle ich.

Jörg Funder ist Professor für Unternehmensführung im Handel an der Hochschule Worms. Dort leitet er das Institut für Internationales Handels- und Distributionsmanagement.

Jörg Funder ist Professor für Unternehmensführung im Handel an der Hochschule Worms. Dort leitet er das Institut für Internationales Handels- und Distributionsmanagement.

Wieso?

Einerseits wurde im Vergleich zum Vorjahr nahezu doppelt so viel bestellt. Eine aktuelle Studie geht davon aus, dass 22 Prozent aller Befragten bereits bei Temu einkaufen. Andererseits wird die Abschaffung der Zollfreigrenze Billig-Händlern nichts anhaben können, weil sie anders funktionieren als klassische Anbieter. Ihr Wachstum ist dynamisch, die Lieferketten sind sehr flexibel. Das Geschäftsmodell wird vom Konsumenten aus gedacht.

Was bedeutet das genau?

Erst wenn Kunden Produkte kaufen, wird die Produktion und Lieferung in Auftrag gegeben. Temu und Co. profitieren auch von den sehr guten Kenntnissen über die eigenen Kunden. Die Unternehmen können so sehr schnell auf aktuelle Trends reagieren. Menschen kaufen hauptsächlich wegen der günstigen Preise bei Billig-Anbietern aus China. Das ist der Kerntreiber der Nachfrage. Dass Konsumenten wegen ein paar Cent mehr Zollgebühren nicht mehr bei Temu einkaufen, ist illusorisch. Das wird Temu nichts anhaben können. Gerade in Deutschland gilt noch immer das Motto "Geiz ist geil".

Kritik an einer Streichung der Ausnahme hat bereits der Verband Ecommerce Europe geäußert, zu dem unter anderem Amazon und Ebay gehören. Die Unternehmen fürchten Vergeltungsmaßnahmen von Handelspartnern der EU. Sind diese Sorgen berechtigt?

Absolut. Wir müssen bedenken: Die Abschaffung der Zollfreigrenze soll nicht nur für asiatische Anbieter gelten, sondern für alle Lieferungen, die nicht aus der EU kommen. Das würde also auch Großbritannien oder die USA treffen, mit denen wir durchaus ein reges Handelsabkommen haben. Ich gehe nicht davon aus, dass es zu einem dezidierten Handelskrieg kommen wird. Aber Gegenmaßnahmen sind durchaus denkbar. Das wiederum könnte dann den exportierenden Einzelhandel oder den Export auch belastet.

Das Geschäftsmodell von Temu zwingt die Konkurrenz bereits zum Handeln: Amazon arbeitet Medienberichten zufolge an einem eigenen Bereich für Billigwaren von Händlern aus China. Glauben Sie, dass etablierte Player im Kampf um die billigsten Preise noch mithalten können?

Die neuen Geschäftsmodelle von Temu und Co. bremsen durchaus das Wachstum von etablierten Online-Händlern wie etwa Amazon. Für eine gewisse Gruppe an Menschen wird es immer relevant sein, günstig zu kaufen. Deswegen müssen sicherlich auch die etablierten Player umdenken. Auch Amazon wird versuchen, diesen Kunden etwas anzubieten. Aber ich glaube nicht, dass deswegen das Geschäftsmodell umgebaut wird. Das funktioniert auch gar nicht.

Ein Erklärungsansatz für die große Beliebtheit der asiatischen Billig-Anbieter: Ohne die Inflation und die Verunsicherung wären Temu und Shein hierzulande nicht so schnell gewachsen. Stimmen Sie dem zu?

Nein. Gerade in Deutschland sehen wir, dass vor allem junge Menschen bei Temu einkaufen. Und die sind von der Wirtschaftslage nur indirekt betroffen und springen besonders auf das sehr innovative Geschäftsmodell an. Das zielt besonders auf die direkte Kundenkommunikation und den Unterhaltungswert beim Einkaufen ab.

Wird es den Portalen gelingen, den Hype aufrechtzuerhalten?

Die Billig-Anbieter aus China werden so schnell nicht vom Markt verschwinden. Temu und Shein wachsen im Moment fast dreistellig im Vergleich zum Vorjahr. Daran wird sich erstmal auch so schnell nichts ändern – das kann auch die Abschaffung der Bagatellgrenze nicht aufhalten.

Mit Jörg Funder sprach Juliane Kipper

Quelle: ntv.de

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