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Beginn einer neuen Ära? Bekannter Wirkstoff schützt vor HIV-Infektion

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Lenacapavir ist ein bekanntes und bereits zugelassenes HIV-Medikament. Nun wird es in einer klinischen Studie als Präventionsmittel getestet. Die Ergebnisse sind bemerkenswert.

Ende des Monats treffen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt auf der Internationalen Aids Konferenz in München zusammen. Es wird erstaunlich gute Nachrichten geben. Es scheint ein Wirkstoff gefunden, der zu 100 Prozent vor einer Infektion mit dem HI-Virus schützt. Vorab veröffentlichte Ergebnisse einer weltweit angelegten klinischen Studie mit dem Wirkstoff Lenacapavir werden schon jetzt als "Gamechanger" im Kampf gegen HIV und AIDS gefeiert. Mit der Freude kommt die Pflicht, das Medikament vor allem in Entwicklungsländern schnell und günstig verfügbar zu machen. Das Pharmaunternehmen Gilead steht in der Verantwortung, die weiterhin anhaltende HIV-Epidemie zu beenden.

Katherine Gill freut sich sehr über den Schutz, den Lenacapavir offensichtlich bieten kann.

Katherine Gill freut sich sehr über den Schutz, den Lenacapavir offensichtlich bieten kann.

(Foto: Nicole Macheraux-Denault)

Katherine Gill kann gar nicht aufhören zu grinsen. "Jahrzehntelang haben wir geforscht und getestet. Wirksamkeitsraten von vierzig, wenn es hochkommt, auch mal sechzig Prozent, das ist normal in der HIV-Forschung" sagt die klinische Studienleiterin der südafrikanischen Desmond Tutu Health Foundation. "Aber 100 Prozent? Das ist unglaublich aufregend!" Katherine Gill lacht.

Es ist eine Geste tief sitzender Erleichterung, die sich in diesen Tagen in der ganzen internationalen Ärzte- und Wissenschaftlergemeinde entlädt. Jahrzehntelang wurde nach einer Möglichkeit gesucht, das hartnäckige HI-Virus, das die Krankheit AIDS auslösen kann, abzuwehren. Ausgerechnet ein schon bekanntes, sowohl in den USA als auch der EU zugelassenes Medikament bringt nun den Durchbruch. Der Wirkstoff Lenacapavir wird bisher nur in speziellen Fällen zur Behandlung von HIV-Patientinnen und -Patienten mit Resistenzen gegen andere Medikamente eingesetzt.

"Lenacapavir ist eine Trendwende, weil es lang anhaltenden Schutz vor dem HI-Virus mit einer Spritze alle sechs Monate ermöglicht", sagt Antonio Flores, leitender HIV-Berater bei Ärzte ohne Grenzen in Südafrika. "Das ist ein 'Gamechanger', ein Durchbruch im Kampf gegen die HIV-Epidemie."

Junge Frauen infizieren sich am häufigsten

Das Leben mit einer Infektion ist dank antiretroviraler Kombinationstherapien inzwischen möglich, wenn auch nicht ohne massive gesundheitliche Einschränkungen. Laut Weltgesundheitsbehörde WHO lebten Ende 2020 etwa 37,7 Millionen Menschen weltweit mit einer HIV-Infektion oder AIDS. "Solange sich Menschen weiterhin mit dem Virus infizieren, wird die Epidemie nicht enden", sagt Gill. 2022 verursachte das Virus 630.000 Todesfälle. Schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen infizierten sich neu. Mehr als 2000 davon in Deutschland (2020). Junge Frauen und Teenagerinnen in Entwicklungsländern sind aus kulturellen Gründen am schlimmsten betroffen. Junge Frauen in Subsahara Afrika machen 77 Prozent der Neuinfektionen aus.

Auf diese Gruppe konzentrierte sich in den vergangenen zwei Jahren die sogenannte Purpose 1 HIV-Präventionsstudie. 5000 Frauen im Alter zwischen 16 und 25 in Regionen mit hohem Virusaufkommen in Uganda und Südafrika nahmen teil. 2100 bekamen den Wirkstoff Lenacapavir des Pharmaherstellers Gilead zweimal pro Jahr unter die Haut, also subkutan in ihr Bauchgewebe gespritzt. Die Ergebnisse zeigen: Nicht eine einzige Frau infizierte sich währenddessen. "Das bedeutet Lenacapavir ist 100 Prozent wirksam", sagt Dr. Linda-Gail Bekker ebenfalls von der Desmond Tutu Health Foundation. "Als ich die erste Auswertung sah, habe ich gezittert. Nach all den Jahren der Trauer und der schwierigen Suche nach einem Impfstoff, ist dies wirklich surreal."

Frauen der Kontrollgruppen der Purpose 1 Studie bekamen die bekannten PrEP-Pillen Truvada und Descovy, die ebenfalls eine hohe Schutzwirkung zeigten. Die Neuinfektionen in diesen Gruppen lagen bei 1,5 und 1,8 Prozent.

Die Einnahme von Tabletten ist für manche schwierig

"Ich denke, viele junge Frauen finden es einfach schwierig, jeden Tag eine Pille einzunehmen", so Bekker. Auch das war Forschungsgegenstand der Purpose 1 Studie. Erste Erkenntnisse sind interessant, weil sie die Grenzen oraler Präventionsmethoden für HIV aufzeigen. Das Ergebnis ist noch nicht veröffentlicht. "Es gab deutliche Ausfälle bei der Einnahme oraler Vorbeugung", sagt Apothekerin Ngosa Nulubwe. Sie war für die medikamentöse Verabreichung und Kontrolle der Testgruppe im Kapstädter Armenviertel Msiphumelele verantwortlich. "Unsere Sozialarbeiterinnen haben gute Arbeit geleistet und die Testpersonen bestärkt." Egal, wie wirksam PrEP in Tablettenform auch sein mag, zielfördernd ist nur eine Schutzmethode, die von der Mehrheit der Konsumenten angenommen wird.

HIV-Infektionen sind in weiten Teilen afrikanischer Kulturen weiterhin ein Tabuthema. "Wenn man täglich eine Pille einnimmt, dann sieht das aus, als wäre es eine HIV-Behandlung", erklärt Sozialarbeiterin Olwethu Kemele. "Das bringt eine Teenagerin in große Erklärungsnot bei ihren Eltern und Freunden. Aber eine Spritze alle sechs Monate in einer Klinik, das ist einfach und privat." Auch deshalb wird Lenacapavir einen großen Unterschied machen. "Frauen haben nun die Wahl, wie sie sich schützen wollen, genauso wie bei der Verhütung", sagt Katherine Gill. Lenacapavir wird nicht für alle das Mittel der Wahl sein, aber für eine Mehrheit eine neue Lösung.

Lenacapavir ist kein Impfstoff, sondern ein antiretrovirales Medikament, das bisher unter dem Namen Sunlenca vertrieben wird. Es ist in der EU und damit in Deutschland für die Behandlung von HIV-Patienten zugelassen, doch wegen der strengen Medikamenten-Preisbremse der Bundesregierung sowie niedriger Patientenzahlen in dem Segment hat sich Gilead gegen eine Markteinführung in Deutschland entschieden. Jetzt, wo vieles darauf hindeutet, dass Lenacapavir viel mehr kann als bisher angenommen, wird eine effektive weltweite Wirkung in erster Linie davon abhängen, wie kooperationsbereit das Pharmaunternehmen ist, sein Produkt großflächig und kostengünstig anzubieten.

Lenacapavir-Studie mit Männern läuft

Eine zweite parallel laufende, klinische Lenacapavir Studie mit dem Namen Purpose 2 wird derzeit in den USA und Lateinamerika mit Männern, die Sex mit Männern haben, und männlichen Sexworkern durchgeführt. Das Ergebnis könnte auch noch diesen Monat veröffentlicht werden. Beide Studien müssen noch Überprüfungen anderer Wissenschaftler standhalten. "Wir müssen vorsichtig sein und können nicht sagen, HIV ist besiegt", warnt die Südafrikanerin Gill. "Der Wirkstoff ist bisher nur für die Behandlung einer HIV-Infektion zugelassen. Jetzt muss er als Schutz vor dem Virus lizenziert werden." Das kann im schlimmsten Fall noch Jahre dauern.

Bekker und Gill werden die Ergebnisse der Purpose 1 Studie auf der AIDS Konferenz in München präsentieren. "Wir müssen jetzt schnell dieses Medikament zur Verfügung stellen, um Menschenleben zu retten", sagt Bekker. Es gäbe erste gute Zeichen, ergänzt Gill. "Gilead hat uns zweierlei versprochen: Erstens, alle Teilnehmerinnen der klinischen Studie werden umsonst Lenacapavir bekommen, bis es offiziell als HIV-Schutz in ihrem Heimatland zugelassen ist." Das sei ungewöhnlich, so Gill. "Zweitens haben sie versprochen, das Patent zur Verfügung zu stellen, damit das Medikament schnell und billig dort hergestellt und vertrieben werden kann, wo es am meisten gebraucht wird."

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Es klingt alles zu gut, um wahr zu sein. Aber es gibt niemanden, der nicht an diese Wende glauben will. Trotzdem, schnelle Lobbyarbeit ist nun extrem wichtig. Auf vielen Ebenen.

"Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem wir Regierungen und Herstellern ihre Verantwortung bewusst machen müssen", sagt Antonio Flores von Ärzte ohne Grenzen. Die Organisation setzt sich unermüdlich für Preisreduzierungen und breiten Zugang lebensrettender Medikamente für Entwicklungsländer ein. "Wir erleben den Anfang einer neuen Ära, ein neues Moment in der Bekämpfung von HIV. Wir haben jetzt die Chance, diese Epidemie drastisch einzudämmen." Der Gebrauch von Kondomen konnte das bisher nicht erreichen, PrEP-Pillen auch nicht. "Wir verfügen über effektive Behandlungswege und jetzt auch über einen lang anhaltenden Schutz mit hoher Effizienz", sagt Flores und fügt hinzu: "Es ist Zeit zu handeln." Es kann nicht schnell genug gehen.

Quelle: ntv.de

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