Lesestoff zum Mauerfall Deutsch-deutsches Erinnern und Nachdenken
09.11.2019, 09:12 Uhr
"Ordnung und Sicherheit" nach DDR-Maßstäben waren in der Nacht des 9. November 1989 einfach nicht mehr zu gewährleisten.
(Foto: imago images/Frank Sorge)
Die DDR gibt es schon lange nicht mehr - was ist von ihr geblieben? Was geschah wirklich im Politbüro? Und was ist ein Gegenlauschangriff? Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls gibt es noch immer jede Menge Fragen und spannende Bücher, die sie beantworten.
Und wo warst du?
Fast jeder weiß noch, wo er am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, war. So überwältigend war die Erfahrung, dass sich die Grenzen öffneten. Die Schilderungen aus jener Nacht haben etwas Abenteuerliches, Unglaubliches. Von der DDR zu erzählen, ist 30 Jahre später hingegen gar nicht mehr so leicht. Alles scheint gesagt, die Realität des Arbeiter- und Bauern-Staates wirkt in der Rückschau noch absurder als zu Zeiten seiner Existenz.
Freya Klier hat für das im Herder-Verlag erschienene Buch "Und wo warst du?" Erinnerungen gesammelt. Von Ostdeutschen an die DDR in ihren letzten Monaten und in der Wendezeit, von Westdeutschen an die neuen Länder und ihre völlig neuen Erfahrungen mit den Brüdern und Schwestern aus dem Osten. Plötzlich wird vieles wieder lebendig, die Überwachung durch die Stasi ebenso wie die Euphorie der Novembertage, die Fremdheit zwischen den Deutschen und die Neugier aufeinander. (sba)
Sofort, unverzüglich
Ein bisschen unglaublich ist die Öffnung des Eisernen Vorhangs auch nach 30 Jahren noch. Bereits 1996 legte Hans-Hermann Hertle seine Dissertation zu den Vorgängen am Tag des Mauerfalls vor. Unter dem Titel "Sofort, unverzüglich" ist diese akribisch zusammengetragene Chronik nun im Ch. Links Verlag erschienen.
Es sind die Worte, die das Politbüro-Mitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 um 18.53 Uhr auf einer internationalen Pressekonferenz auf die Nachfrage antwortet, wann denn die geplante Grenzöffnung in Kraft treten soll. Sechs Stunden später sind alle Grenzübergänge zwischen Ost- und West-Berlin offen. Auch im Rückblick sind diese dramatischen Stunden und Tage noch immer spannend wie ein Krimi.
Die unter enormen Druck stehende DDR-Führung handelt unkoordiniert, die Sicherheitskräfte können nur erstaunt registrieren, was passiert. Westliche Medien melden Situationsbestimmungen, die so nicht stimmen, aber Erwartungen bedienen und dann tatsächlich zu den behaupteten Tatsachen führen. In Moskau kann man nur ohnmächtig zuschauen. Die Realität überholt die Fiktion und führt zu einem kollektiven Glückstaumel über ein welthistorisches Ereignis. Der Mauerfall sozusagen in Echtzeit. (sba)
David gegen Goliath
Ohne den 9. Oktober hätte es den 9. November nicht gegeben, ohne die friedliche Revolution in der DDR keinen Mauerfall für ein wiedervereinigtes Deutschland. Weil sich das alles aber noch hinter dem Eisernen Vorhang abspielte, geht es in der historischen Erzählung oft unter. Der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und sein Sohn, der Historiker Sascha Lange erinnern in "David gegen Goliath" an ein Land, das in seinem 40. Jahr in völliger Agonie war.
Die Unzufriedenheit unter den DDR-Bürgern hatte ein Ausmaß angenommen, dem mit einem Ausreiseantrag nicht mehr beizukommen war. In Leipzig ist das öffentliche Aufbegehren nicht zu übersehen. In der Nikolaikirche werden genauso Grundsatzpapiere formuliert wie im Gewandhaus und bei der SED. Am 9. Oktober verliest der Dirigent Kurt Masur den "Aufruf der Leipziger Sechs" im Radio: "Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land."
Die größte Sorge ist die, dass die Staatsführung bereit sein könnte, den Protest militärisch niederzuschlagen. Über 3000 Sicherheitskräfte stehen bereit, Schilde und Schlagstöcke sind angefordert. Selbst der Einsatz von Panzern und scharfer Munition wird diskutiert. In den Krankenhäusern sind zusätzliche Blutkonserven angefordert worden. Am Ende ziehen 70.000 Menschen durch Leipzig und es bleibt friedlich. Weil so viele Davids auf der Straße sind, "dass Goliath dagegen ganz klein aussah". (sba)
Vom Sinn unseres Lebens
Michael Nast bekam zu seiner Jugendweihe am 16. April 1989 das Buch "Vom Sinn unseres Lebens" – eine Art Propaganda-Prachtbildband, der der das Leben in der DDR in den herrlichsten Farben malte und den niemand las. Die Sinnfrage treibt den Autor trotzdem bis heute um. Mehr denn je fühlt er sich inzwischen als Ostdeutscher und damit auch überwiegend missverstanden.
Manchmal will er erzählen, er habe in der Nacht der Grenzöffnung auf der Mauer getanzt, er war ja immerhin in Berlin. Tatsächlich aber verschlief er das historische Ereignis einfach, immerhin war er erst 14. Außerdem lebte er nicht im wilden Prenzlauer Berg, sondern in Mahlsdorf-Süd. In den zurückliegenden 30 Jahren hat er viele Phasen durchlaufen, die Ostdeutsche nachempfinden können: Die Fremdheit mit der eigenen Herkunft, den Stolz, nicht als Ossi erkannt zu werden bis hin zu einer gewissen Unwilligkeit, wenn mit großer Selbstverständlichkeit ziemlicher allgemeiner Unsinn über die DDR gesagt wird.
Manchmal weiß man nicht, ob das alles wirklich der friedlichen Revolution geschuldet ist, oder doch der Erfindung des Internets oder gar der fragilen Männlichkeit des Autors, aber auch nach 30 Jahren ist Nasts Sehnsucht nach Miteinander statt Gegeneinander noch immer ungestillt. (sba)
"Gegenlauschangriff - Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege"
Christoph Hein kennt Deutschland aus diversen geschichtlichen Phasen und von beiden Seiten: Er wurde 1944 in Schlesien geboren, wuchs in der Nähe von Leipzig auf und ging ab 1958 in West-Berlin aufs Gymnasium, da ihm als Pfarrerssohn der Zugang auf die Erweiterte Oberschule in der DDR verwehrt war. Mit dem Grenzgängertum war ab Sommer 1961 mit dem Mauerbau Schluss; er blieb in der DDR, wurde Autor, Dramaturg und Schriftsteller und einer der wichtigsten Chronisten der deutsch-deutschen Historie. Bisher erzählte er meist die Geschichten anderer - in "Gegenlauschangriff - Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege" geht es zum großen Teil um eigene Erlebnisse.
So schildert Hein in einer der insgesamt 28 Anekdoten, mit dem titelgebenden Begriff "Gegenlauschangriff" überschrieben, erst einen Lauschangriff: wie er nach der Wende in den Stasi-Akten von der Verwanzung seiner Wohnung nachlesen und anhand der Gesprächsprotokolle nachvollziehen konnte, was alles aufgezeichnet wurde. Die Aktion in die andere Richtung bezieht sich auf ein Vorkommnis in Manfred Krugs Wohnung Mitte der 70er: "Krug hatte Schriftsteller und befreundete Kollegen in seine Wohnung eingeladen, um dort mit hohen Staatsfunktionären über die gerade erfolgte Ausbürgerung von Wolf Biermann zu diskutieren und die Funktionäre zu einer Rücknahme der Expatriierung zu bewegen." Das Gespräch wurde von Krug per Tonband heimlich mitgeschnitten - "ein tollkühner Akt".
Aber warum "aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege"? Damit meint Hein sowohl die Zeit des Kalten Krieges vor dem Mauerfall als auch die innerdeutschen Konflikte danach. Und wohl auch ein wenig seine eigenen Auseinandersetzungen mit dem Westen - in "Mein Leben, leicht überarbeitet" fühlt er sich durch den Filmregisseur Florian Henckel von Donnersmarck in dessen Stasi-Film "Das Leben der Anderen" falsch dargestellt und ausgenutzt; in "Dass einer lächeln kann und lächeln" ist Hein vom "Spiegel" enttäuscht, weil sie gern ein Schurkenstück über ihn geschrieben, aber in den Stasi-Akten nichts Böses gefunden hätten. Auch aus der Anekdote "Der Neger" - der weitaus längsten in dem schmalen Bändchen - spricht Enttäuschung und Verbitterung; hier geht es um seine mit allerlei Merkwürdigkeiten und Tricks verhinderte Intendanz am Deutschen Theater in Berlin im Jahr 2004. Er begründete damals seinen Rückzug mit "massiven Vorverurteilungen" und einem "vergifteten, feindseligen Klima".
Es geht um Zensur in der DDR und um Verrat, damals und heute, um Ignoranz und koloniales Gehabe seitens westdeutscher Beamter nach der Wiedervereinigung. Aber es gibt auch versöhnliche, warme und amüsante Töne - wie etwa in "Nach Moskau, nach Moskau!", wo Ostberliner Schauspielerinnen auf Gastspiel in Düsseldorf auf kurzem Dienstweg der Kurztrip nach Paris ermöglicht wird. Den Grundton von Heins Anekdoten fassen jedoch die letzten beiden Sätze des Buches zum "gegenwärtigen Zustand des deutsch-deutschen Verhältnisses" zusammen: "Die beiderseitige Abneigung und der gereizte Widerwille wichen einem gleichgültigen Interesse. In weiteren dreißig Jahren kann dann endlich zusammen verwachsen, was zusammen gehört." (abe)
Mein Skandinavisches Viertel
Korsörer, Finnländische, Malmöer, Dänenstraße ... sie alle gehören zum sogenannten Skandinavischen Viertel, einem Wohngebiet im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, das sich entlang der ehemaligen Grenze zieht. Große Bekanntheit, sogar Weltberühmtheit erlangte vor 30 Jahren die Bornholmer Straße: Am dortigen Grenzübergang bekam am Abend des 9. November 1989 die Mauer ihr erstes Loch. Schon in seinem Roman "Skandinavisches Viertel" von 2018 hatte Torsten Schulz dem Kiez ein literarisches Denkmal gesetzt; nun folgt ein kleiner Band in der Reihe "Berliner Orte" des Bebra-Verlages zu geschichtsträchtigen Straßen und Plätzen. 2017 war dort "Die Oderberger Straße" erschienen, auch so eine Straße, die früher im Mauerschatten lag.
Die frühere Grenzlage spielt selbstredend auch in "Mein Skandinavisches Viertel" eine größere Rolle, aber es geht nicht nur darum. Der Autor schlendert, flaniert durch die Straßen, Kindheitserinnerungen vermischen sich mit Beobachtungen und Begegnungen von heute. Fußballspielen auf dem "Exer", dem heutigen Jahn-Sportpark auf einem ehemaligen Exerzierplatz der Preußischen Armee, die Faszination knackiger Frauenpos in Hot Pants, die Drehorte von "Solo Sunny" und "Berlin Ecke Schönhauser", die Eckkneipen damals und heute ...
Aber die Nähe zur Mauer nimmt doch im Buch einen großen Raum ein - das historische Datum 9. November 1989 hat ein eigenes Kapitel, in dem Schulz uns an seiner persönlichen Mauerfall-Nacht teilnehmen lässt. Die wäre fast am nächsten Morgen in der "Bornholmer Hütte" geendet, einer Traditionskneipe mit einer über 100 Jahre alten Kegelbahn, in der seit 1973 nicht renoviert wurde und die durch die Grenzöffnung einen großen Aufschwung erlebte. Schließlich war sie die letzte Kneipe vor und hinter der Grenze und West-Gäste, die schon zu DDR-Zeiten gekommen waren, wurden nun deutlich mehr. Denn es war für sie nun auch viel leichter - vor allem nach dem Wegfall des Zwangsumtausches von 25 D-Mark zu Weihnachten 1989 -, den Osten zu erkunden. Und so kamen sie, schauten - und tranken auch mal einen. (abe)
Ost Places - wo die DDR noch sichtbar ist
Die DDR ist passé - doch was bleibt von ihr? Vielerorts zeugen auch drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer zahlreiche Gebäude, Skulpturen, aber auch unscheinbare Dinge vom Alltag im ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden. Anderswo bedarf es eines extrem scharfen Blickes, um die teils bröckelnden Denkmale zu erkennen. Der studierte Osteuropa-Historiker, Fotograf und Journalist Andreas Metz hat sich drei Jahre lang auf ebenjene aufwendige Spurensuche durch ein untergegangenes Land gemacht. Pünktlich zum Mauerfall-Jubiläum ist im Eulenspiegel-Verlag "Neues Leben" der Bildband "Ost Places - Vom Verschwinden und Wiederfinden der DDR" erschienen - und damit ein beeindruckende Sammlung stiller Zeitzeugen, die trotzdem viel zu erzählen haben.
Mehr als 15.000 Bilder hat Metz für sein Projekt gemacht. Doch auch wenn es mit 500 Fotos nur ein Bruchteil dessen in sein 208 Seiten starkes Werk geschafft hat, kreiert er ein umfangreiches Bild vom ostdeutschen Gestern im bundesdeutschen Heute. Ob per Fahrrad, Bahn oder Bus: Einer Safari gleich schien sich Metz ins Abenteuer zu stürzen - einer Foto-Expedition in die neue Bundesländer, die an einigen Orten allenfalls nur noch Narben der Vergangenheit aufweisen wie den Mauerstreifen im Harz. Der Bildband besticht aber auch durch einen liebenswerten Blick fürs Detail. So etwa fängt Metz eine Elefantenrutsche auf einem Dresdner Kinderspielplatz oder ein heute absurd erscheinendes Relikt wie die Wandlitzer Datsche von Erich Honecker fotografisch ein. Er findet aber auch Orte, an denen das DDR-Andenken, Traditionen oder aber auch schlichtweg Leuchttürme des Alltags bewahrt werden - mal mit mehr, mal mit weniger Ostalgie.
Die Lektüre dieses Bildbandes lässt keinen Zweifel daran, dass Metz von einer immensen Entdeckerlust angetrieben worden ist. In elf Kapiteln gewährt er auch einen Einblick in die Gefühlswelt des Betrachtenden. So schreibt der gebürtige Hesse von einem "verstörenden Anblick", der sich vor und in unzähligen leerstehenden Fabrikgebäuden in vielen ostdeutschen Kommunen biete: "Durch diese stillen Kathedralen der Arbeit zu laufen und sich die Menschen vorzustellen, die hier die Produktionspläne erfüllten, stimmt nachdenklich." Doch nicht nur in der Peripherie, sondern auch in Städten wie etwa in seinem Berliner Kiez konnte Metz der DDR beim Verschwinden zusehen. Er beschreibt diesen Prozess als Transformation von Ost Places zu Lost Places. An insgesamt 130 Orten gelangen Metz so mitunter überraschende Momentaufnahmen. Das Fazit seiner Entdeckungsreise kommt einer Mahnung gleich: "Die DDR zu entdecken und damit ein Stück Alltagsgeschichte zu verstehen, gleicht einem Wettrennen gegen die Zeit." (cri)