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"Der Stich der Biene" Was tun, wenn alles auseinanderfällt?

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Dass Imelda an ihrem Hochzeitstag von einer Biene gestochen wird, ist nur ein Zufall oder eine falsche Erinnerung?

Dass Imelda an ihrem Hochzeitstag von einer Biene gestochen wird, ist nur ein Zufall oder eine falsche Erinnerung?

(Foto: IMAGO/imagebroker)

Dickie Barnes hat einen Autosalon, doch die Zeiten sind schlecht, ebenso wie sein Gewissen angesichts der Klimakrise. Ohne verkaufte Autos hat die Familie aber kein Geld und die Dinge geraten nicht nur zwischen Dickie und seiner Frau Imelda ins Rutschen.

Auf den ersten Seiten von Paul Murrays "Der Stich der Biene" könnte man glauben, es mit einem weiteren Roman über das Erwachsenwerden zu tun zu haben. Man lernt Cassie Barnes kennen, die ganz offenbar ihren Vater Dickie vergöttert und ihre Mutter Imelda verachtet. Sie ist befreundet mit der gut aussehenden Elaine, die Freundschaft wird jedoch immer wieder durch Elaines Verhalten infrage gestellt. Beide stehen kurz vor dem Schulabschluss, danach soll es aus der irischen Kleinstadt hinaus und auf die Uni gehen.

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Doch Murrays Roman, übersetzt von Wolfgang Müller, hat 700 Seiten und ist so viel mehr als die Beschreibung eines letzten Sommers, bevor sich alles verändert. Dickie Barnes hat den Autosalon von seinem Vater übernommen und die schöne Imelda geheiratet. Die Kinder Cassie und P.J. wachsen in sicheren Verhältnissen auf, bis die Finanzkrise das Autogeschäft ruiniert wie die "Hälfte der Geschäfte auf der Main Street".

Dickie war nie ein besonders guter Autoverkäufer, aber jetzt rächt es sich, dass er seinen Kunden nach einem entscheidenden Gespräch mit seiner Tochter über die Klimakrise auch noch ausdrücklich vom Autokauf abrät. Eine Werkstatt muss geschlossen werden, für den Rest des Geschäfts sieht es ebenfalls nicht gut aus. Imelda beginnt bereits, all die unnötigen Dinge auf Ebay zu verkaufen, die sie in besseren Zeiten fortwährend bestellt hatte.

Cassie fängt ausgerechnet kurz vor den Abschlussprüfungen an, nächtelang auszugehen und in den Kneipen des Ortes zu trinken. Der zwölfjährige PJ fürchtet, seine Eltern könnten sich scheiden lassen, und verbringt immer mehr Zeit damit, einem Fremden SMS über Videospiele zu schreiben. In der Schule lebt er in der ständigen Bedrohung, abgezogen zu werden. In seiner zunehmenden Verzweiflung schmiedet er Pläne, von zu Hause wegzulaufen.

Wie war es, wie soll es werden?

Die zunächst gemächliche Erzählung nimmt immer mehr an Fahrt auf. Es wird klar, jedes Mitglied der Familie Barnes kämpft mit seinen eigenen inneren Dämonen. In den verschiedenen Kapiteln kommen die einzelnen Charaktere zu Wort, erzählen von alten Verletzungen, neuen Ängsten und den Bemühungen, wieder Kontrolle zu gewinnen.

Imeldas Kapitel wirken wie ein nie enden wollender Strom von Gedankenfetzen, die Niederschrift ohne jede Interpunktion erinnert an ihren Mangel an formaler Bildung. Aufgewachsen in Armut, mit einem gewalttätigen Vater, trifft sie ihre große Liebe. Doch das ist nicht Dickie, sondern dessen Bruder Frank, der bei einem Unfall ums Leben kommt, bevor das gemeinsame Leben überhaupt richtig begonnen hat. An dem Tag, als Imelda Dickie an seiner Stelle heiratet, wird sie von einer Biene gestochen oder ist auch das nur wieder eine Erinnerungskonstruktion, um der überwältigenden Realität etwas von ihrer Grausamkeit zu nehmen?

Dickie erinnert sich an seine Studienzeit am Trinity College und an das Leben, das er dort führte. Das ist ein ganz anderer Dickie, weit weg vom Familienvater und Autohausbesitzer, und was er dort war, ist heute Material für eine Erpressung. Offenbar hat Dickie schon gezahlt, aber wie alle Erpresser ist auch dieser niemals satt. Für Dickie ein Grund mehr, sich von der Welt abzuwenden. Zusammen mit seinem früheren Angestellten, dem Weltuntergangsvorbereiter Victor, beginnt er, einen Bunker im Wald zu bauen.

Cassie, die sich sicher war, dass sie ihre Prüfungen nicht bestanden hat, schafft es überraschend doch ans Trinity College. Sie wohnt mit Elaine zusammen, aber die Beziehung wird immer komplizierter, auch weil Cassie einfach nicht herausfindet, wer sie ist und was sie will. PJ versucht verzweifelt, seinen unglücklichen Eltern und den Mobbern zu entkommen und gerät dabei in höchste Gefahr.

Eine Erzählung für die Polykrise

Die finanziellen Schwierigkeiten lassen jedes Familienmitglied in persönliche Not geraten. All das geschieht vor dem Hintergrund des Klimawandels. So hat Murray eine Erzählung für die komplexe Polykrise der Gegenwart gefunden, in der Geschlechterverhältnisse und -identitäten ebenso ihren Platz finden wie seelische Gesundheit, Missbrauch, Geld, Sexualität, Liebe, Gewalt und Weltuntergangsfantasien. Das klingt übervoll und in gewisser Weise ist der Roman das, dabei aber voller Witz, Tempo und Nachdenklichkeit.

An einer Stelle des Romans hört Cass den Vortrag eines früheren Trinity-Absolventen, der inzwischen Politiker ist und offen schwul lebt. "Das ist die Vergangenheit, oder?", sagt er in Erinnerung an seine Studienzeit. "Du glaubst, sie liegt hinter Dir und dann betrittst Du einen Raum, und da ist sie und wartet auf Dich."

Murrays Figuren begegnen ihren Vergangenheiten, vor allem aber sich selbst. Das ist schmerzhaft und löst sogar Verzweiflung aus. Der Autor liebt seine Figuren inbrünstig, und selbst in der dysfunktionalen Familie Barnes ist in aller Verlorenheit viel Liebe füreinander. Aber wie sagt PJ an einer Stelle über den Film "Friedhof der Kuscheltiere": "Die Moral des Films ist, dass man Dinge technisch gesehen wiederherstellen kann, aber es ist eine Menge Ärger und am Ende des Tages wird man sich wahrscheinlich wünschen, man hätte es nicht getan."

Quelle: ntv.de

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