We just feel sorry! Den ESC rocken mal wieder andere
23.05.2021, 04:35 Uhr
Lecko mio - sie haben den ESC gewonnen: Måneskin aus Italien.
(Foto: picture alliance / ANP)
Chanson! Hardrock! Indie! Und Deutschland. Selten zuvor war ein Eurovision Song Contest so vielseitig und spannend. Nur das deutsche Abschneiden auf dem vorletzten Platz zeichnete sich bereits ab. In diesem Sinne: Glückwunsch, Italien!
Es war wirklich das, was man ein Herzschlagfinale nennt. Als alle Jurys der insgesamt 39 Länder beim Eurovision Song Contest (ESC) in diesem Jahr ihre Punkte abgegeben hatten, setzte sich die Top 3 wie folgt zusammen: Die Schweiz führte mit Gjon's Tears und "Tout l'univers" (267 Punkte) vor Frankreich mit Barbara Pravi und "Voilà" (248 Punkte) sowie Malta mit Destiny und "Je me casse" (208 Punkte). Die italienische Band Måneskin folgte mit "Zitti e buoni" erst auf dem vierten Rang (206 Punkte) mit einem deutlichen Abstand auf den erstplatzierten Indie-Pop-Song der Eidgenossen.
Doch erstens kommt es meistens anders und zweitens als man denkt. So stellten zum Schluss die Publikumsstimmen das Ergebnis vom Kopf auf die Füße. Die Folge: Die Schweiz rutschte in der Endabrechnung mit insgesamt 432 Punkten auf den dritten Platz ab. Frankreich zog mit 499 Punkten vorbei, und Malta landete mit lediglich 255 Punkten gar unter ferner liefen. Die strahlenden Gewinner des 65. Song Contests kommen stattdessen mit satten 524 Punkten aus Italien.
Das heißt: So sehr gestrahlt haben die Måneskin-Musiker dann auch wieder nicht, schließlich sind sie ja knallharte Rocker. Im Vergleich zu Destiny, die bei der Punktevergabe dreinblickte, als ginge sie zu ihrer eigenen Beerdigung, wirkten sie nach der Bekanntgabe ihres Sieges in der Ahoy-Arena von Rotterdam aber natürlich wie Honigkuchenpferde in Lederkluft.
Sieg der Publikumslieblinge
Und das zu Recht. Schließlich haben sich damit auch die absoluten Publikumslieblinge durchgesetzt. Kein Teilnehmer bekam von den Zuschauern aus ganz Europa mehr Punkte als die Truppe aus Rom. Ja, wäre es einzig und allein nach den "Televoters" gegangen, dann hätten sich zwischen den Hardrock aus Italien und den Chanson aus Frankreich sogar noch deutlich ungewohntere ESC-Klänge geschoben. Die abgedrehte Techno-Folklore von Go_A mit "Schum" aus der Ukraine, die von den Jurys lediglich mit dem neunten Platz bedacht wurde, landete in der Zuschauergunst auf Rang zwei.
Was daraus folgt? Dass man wieder mal hervorragend eine Diskussion über den Sinn und Zweck der Jurys beim ESC führen könnte, zumal das idiotische Punktegeschacher der Marke "12 Punkte aus Zypern an Griechenland" inzwischen vor allem zu deren Spezialität geworden zu sein scheint. Und was noch? Dass Wettbüros und Buchmacher offenbar mehr Ahnung haben als die angeblich mit viel Fachwissen gesegneten Juroren. Sie hatten schließlich einen Sieg Italiens bereits nahezu durchgängig prophezeit.
Germany ... zero points
Diese Lehre ist auch und gerade mit Blick auf das deutsche Abschneiden bitter. Erstmals nach längerer Zeit hat Deutschland mal wieder einen Kandidaten ohne Vorentscheid ins Rennen geschickt. Auch hier waren sich gleich zwei Jurys aus Experten beziehungsweise ESC-Hardcore-Fans sicher, mit Jendrik und "I Don't Feel Hate" genau den passenden Beitrag gefunden zu haben, um Deutschland endlich aus seinem gefühlt ewigen Jammertal bei dem Wettbewerb zu führen.
Doch Pustekuchen! Auch ohne Vorentscheid endete der ESC für "Germany" mal wieder im Tal der Tränen - auf dem 25. und somit vorletzten Platz. Dass wenigstens der Brite James Newman mit "Embers" als komplette Nullnummer noch hinter Jendrik landete, ist lediglich 3 (in Worten: drei) Jury-Punkten zu verdanken - 2 aus Österreich und 1 aus Rumänien. Das europäische Publikum dagegen hatte von Reykjavik bis Nowosibirsk für Deutschland genau so viel übrig: Zero points. Zéro point. Null Punkte.
Und auch das - so leid es einem tut - zu Recht. Jendrik mag durchaus ein sympathischer Kerl und sein Song von der Komposition her sogar etwas besser sein als der vernichtende Ruf, der ihm stante pede vorauseilte. Doch das nur, solange man die Augen vor der Performance geschlossen, das Ukulelen-Geschrammel, das Roger-Whittaker-Gedächtnis-Pfeifen und die Gaga-Passage mit "Ich hoffe, Sie haben noch ein derbe nices Leben - und bis bald" ausgeblendet hat.
Da staunen sogar Influencer
Wie ein für die Instagram-Generation gepimptes "Ein bisschen Frieden" biederte sich "I Don't Feel Hate" an einen vermeintlichen Zeitgeist an - und wirkte dabei doch nur komplett wie aus der Zeit gefallen. Über Neon-Klamotten aus der Kinderfaschingsabteilung, Luft-Akrobatik mit einer Strassstein-Ukulele und eine Schaumstoff-Hand auf zwei Beinen, die noch dazu zeitweise unfreiwillig zum Stinkefinger mutierte, schütteln eben offenbar sogar Influencer nur verwundert den Kopf. Keine Frage: Ähnlich peinlich berührt fühlte man sich bei keinem deutschen ESC-Beitrag seit Alex Swings Oscar Sings! mehr - auch das 2009 übrigens ein Beitrag, der von einer sogenannten Fachjury nominiert worden war. Oder um es - fast - mit Jendrik zu sagen: We just feel sorry.
So bleibt nur, den Niederlanden zu danken. Dafür, dass sie allen Corona-Widrigkeiten zum Trotz einen ESC auf die Beine gestellt haben, der dank der musikalischen Vielseitigkeit und hohen Qualität vieler Beiträge im Gedächtnis bleiben wird. Und natürlich gilt es, Italien zu gratulieren. Man kann nur neidlos anerkennen: Den ESC haben mal wieder andere gerockt.
Quelle: ntv.de