TV

Systemsprenger im "Tatort" Die Kinder haben Besseres verdient

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Sehr wütend: Marlon.

Sehr wütend: Marlon.

(Foto: SWR/Christian Koch)

Besonders "schwierige" Kinder, die durch alle Raster von Kinder- und Jugendhilfe fallen und nur noch von einer Institution zur nächsten weitergereicht werden, heißen im Fachjargon Systemsprenger. Der "Tatort" erweist ihnen einen Bärendienst.

Marlon ist wütend. Verdammt wütend. Mit der Kamera in seinem Rücken und einer diabolischen Energie rauscht der Neunjährige mit dem Ninja-Rucksack in sein Schulgebäude, als wäre der Punisher auf seinem finalen Rachefeldzug. Dass gleich irgendwas Schlimmes passieren wird, ist schon klar, nur noch nicht, was. Minuten später ist der Junge dann tot, und der neue "Tatort" direkt auf Betriebstemperatur. Aber alte Grundregel: Ein guter Anfang macht noch keinen guten "Tatort", vor allem nicht, wenn er aus Ludwigshafen kommt. Und das ist bei "Marlon" nicht anders.

Marlons Vorbild: Benni (Helena Zengel) in "Systemsprenger".

Marlons Vorbild: Benni (Helena Zengel) in "Systemsprenger".

(Foto: picture alliance/dpa/Deutscher Filmpreis)

Leider, muss man dazusagen, denn das Thema, das der Fall behandelt, ist ein außerordentlich wichtiges: Marlon ist ein sogenannter Systemsprenger, also ein verhaltensauffälliges Kind, das so "schwierig" zu handeln ist, dass es durch alle Raster fällt und von einer Institution zur nächsten durchgereicht wird, was das Problem natürlich nicht verbessert. Die Anführungszeichen deshalb, weil man es sich mit dem Begriff "schwierig" zu einfach macht: Systemsprenger kommen nicht aus dem Nichts, sie sind wie wir alle auch zu einem großen Teil ein Produkt ihrer Umwelt - und von den oft überforderten Eltern über die Schule bis hin zu den diversen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe weiß einfach eben (noch) niemand so wirklich Bescheid, wie man diesen Kindern richtig und nachhaltig helfen kann.

Der schlechtere "Systemsprenger"

Das Thema ist also, um den Bogen zu schlagen, eines, das es verdient, besonders feinfühlig und differenziert erzählt zu werden. Und das ist nun wirklich nicht die große Stärke des SWR-Teams um Kommissarin Odenthal (Ulrike Folkerts), das eher einen Hang zum Übererklären und Vorkauen hat. Das ist auch in "Marlon" nicht anders: Es gibt jede Menge unempathische Eltern, einen überfürsorglichen Sozialarbeiter und brüllende und tobende Kinder im Überfluss. Grauzonen gibt es dafür so gut wie keine - dabei würden genau die gebraucht, um das Problem auch nur annähernd zu erfassen. Stattdessen erklären sich die beiden Ermittlerinnen bei ausgedehnten Autofahrten einfach nochmal, was die vielen holzschnittartig angelegten Charaktere gerade gemacht haben.

Mehr zum Thema

Wie viel besser das geht, hat 2019 ein anderer Film vorgemacht, der ganz offensichtlich auch die Vorlage für den misslungenen "Tatort" ist: "Systemsprenger" heißt das Meisterwerk von Nora Fingscheidt, das alleine beim Deutschen Filmpreis acht Auszeichnungen abräumte und auch international viel Beachtung fand. Dass sich die Drehbuchautorin und Regisseurin im Vorfeld fünf Jahre lang mit dem Stoff beschäftigte und für Recherchezwecke in Wohngruppen und psychiatrischen Einrichtungen mitarbeitete, merkt man dem Film an.

Besonders wichtig für die Wucht des Streifens ist aber Hauptdarstellerin Helena Zengel, die die Rolle der neunjährigen Benni mit einer unglaublichen Intensität spielt: "Da war nie etwas rein Verzogenes oder Freches zu sehen, es war immer mit Fragilität und Verletzlichkeit verknüpft", sagte Regisseurin Fingerscheidt später über ihre Entscheidung für Zengel. Genau das also, was "Marlon" fehlt: Hier bleibt man nach 90 Minuten nicht erschüttert und angefasst zurück, sondern vor allem ein bisschen ratlos. Und das, obwohl sie sich in Ludwigshafen mal wieder redliche Mühe gegeben haben, alles ganz genau zu erklären: Aber weniger ist manchmal eben doch einfach mehr.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen