Flutkatastrophe vor drei Monaten Ahrtal schwankt zwischen Wegzug und Wiederaufbau
15.10.2021, 08:22 Uhr
Die dramatischen Rettungsaktionen sind noch sehr präsent.
(Foto: dpa)
Seit der Jahrhundertflut mit 133 Toten im Ahrtal ist ein Vierteljahr vergangen. Inzwischen beginnt der Wiederaufbau, aber das ist nicht für alle verlockend. Eine Zwischenbilanz.
Kunterbunt bemalt und beschriftet ist das frei stehende Haus mit den scheibenlosen Fensterhöhlen in Dernau im flutgeschädigten Ahrtal. Die Nachbarhäuser sind schon abgerissen. "Das Ahrtal gibt nicht auf" steht an der Fassade. Und wortspielerisch: "We ahr together Solidahrität." Im ersten Stock gibt es eine Terrasse - bis zur oberen Geländerstange ist die Sturzflut am 14. und 15. Juli gestiegen. Darunter ist ein Polizeihubschrauber mit zwei Menschen an einem Seil gemalt. Daneben steht: "4 Personen von dieser Terrasse aus gerettet." Drei Monate ist das Hochwasser nach extremem Starkregen mit 133 Todesopfern und Tausenden beschädigten oder zerstörten Häusern her - was hat sich seitdem getan?
"Wir sind an einem Wendepunkt", sagt der Bürgermeister der Verbandsgemeinde Adenau, Guido Nisius. "Es ist sehr viel aufgeräumt worden. Die Schuttberge sind praktisch verschwunden. Jetzt geht es an den Wiederaufbau", sagt der CDU-Politiker. Das Land Rheinland-Pfalz habe kürzlich "den Katastrophenfall aufgehoben". Damit übernimmt im Ahrtal wieder die Kreisverwaltung Ahrweiler die sogenannte Gefahrenabwehr.
Nach dem Abriss vieler Häuser im größten zusammenhängenden Rotweingebiet Deutschlands klaffen in seinen Dörfern viele Baulücken. Mehr als 70.000 freiwillige Helfer sind nach Angaben eines für sie eingerichteten Shuttledienstes im Ahrtal schon aus dem In- und Ausland angereist, um den Flutopfern beim Entkernen ihrer durchnässten vier Wände zu helfen: Schlamm raus, Putz von den Wänden ab, Bodenbeläge raus - und dann wochenlanges Laufen der Bautrockner.
Längst gleichen viele Häuser Rohbauten. Ihre Bewohner sind zu Verwandten und Freunden, in andere Wohnungen, Notunterkünfte und Wohnwagen ausgewichen. Tagsüber kommen viele zurück. Michael Gerke, Helfer aus dem niedersächsischen Buchholz in der Nordheide, sagt in Altenburg: "Im Moment wohnen hier nur wenige. Nachts ist das fast ein Geisterdorf."
Schwierige Zeitplanung
Inzwischen sollen laut dem rheinland-pfälzischen Finanzministerium die ersten Zahlungen aus dem Wiederaufbaufonds von Bund und Ländern auf private Konten fließen. Die Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr, Cornelia Weigand hofft, in ein, zwei Jahren könnten viele zerstörte Häuser wiedererrichtet sein. Der Handwerker- und Baumaterialmangel macht dies indessen nicht leichter. Und wer ein mulmiges Gefühl hat, wieder recht nahe am Fluss zu bauen, findet in dem engen Tal meist nicht viele freie höher gelegene Grundstücke.
Weigand sagt, noch länger könne sich der Wiederaufbau von Teilen der Infrastruktur hinziehen, beispielsweise der Ahrtalbahn. Zwar soll deren Teilstrecke zwischen Remagen und Walporzheim möglichst bis Jahresende wieder eingleisig in Betrieb genommen werden. Beim weitaus mehr zerstörten Rest der insgesamt rund 30 Kilometer langen Strecke flussaufwärts zwischen Walporzheim und Ahrbrück traut sich die Deutsche Bahn noch nicht, eine zeitliche Prognose zu geben.
Die materiellen Probleme sind das eine, die psychischen Folgen das andere. Die Mainzer SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer sagt: "Die Flutkatastrophe hat Rheinland-Pfalz ins Mark getroffen. Die Zerstörungen und das Leid der betroffenen Menschen vor allem im Ahrtal sind unvorstellbar groß und haben eine Dimension, die es in der Geschichte der Bundesrepublik so noch nie gab." Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft seien beispiellos. Das Land setze auch bei der psychotherapeutischen Betreuung der Menschen einen Schwerpunkt: Noch in diesem Jahr soll zum Beispiel in Bad Neuenahr-Ahrweiler ein Traumatherapiezentrum seine Arbeit aufnehmen.
Zahlreiche Wegzüge
Viele Menschen verlassen gleichwohl das Ahrtal. Der CDU-Bürgermeister von Bad Neuenahr-Ahrweiler, Guido Orthen, hat vor Wochen geschätzt, dass bis Jahresende 10.000 seiner 30.000 Einwohner wegziehen könnten. In der Kurstadt haben auch viele zugezogene Senioren zur Miete gewohnt. Weiter flussaufwärts sagt Bürgermeisterin Weigand, in den Weindörfern an der Ahr dagegen lebten viele Familien tief verwurzelt schon seit Generationen in den eigenen Wänden. Das könnte auf weniger Wegzug hindeuten. "Viele haben sehr Traumatisches erlebt und gesagt, sie kommen nicht wieder zurück. Aber erstaunlich viele wollen doch zurückkehren", sagt die Kommunalpolitikerin.
Melanie Brücken, Gründerin eines Helfertreffs in Sinzig, sagt, das sei auch eine Generationenfrage: 80 Jahre alte Flutopfer wollten kaum wieder ein zerstörtes Haus aufbauen, jüngere Familien dagegen schon. "Ganz langsam fangen die ersten mit Wiederaufbau an. Sie zeigen stolz Fotos von neu eingebauten Fenstern oder neu angelegten Blumenbeeten. Langsam machen sie es sich wieder schöner", erzählt Brücken.
"Viele sagen, sie wollen klimafreundlicher und hochwassersicherer wiederaufbauen", ergänzt sie. Auch Ministerpräsidentin Dreyer bemerkt zum Wiederaufbau: "Wir müssen aus dieser Katastrophe aber auch Lehren ziehen, um für künftige Naturereignisse besser gewappnet zu sein." Experten zufolge häuft sich Extremwetter im Zuge des Klimawandels.
Teils Sondergenehmigungen nötig
Laut einer neuen Risiko-Karte des Landes dürfen nur 34 zerstörte Häuser im Ahrtal wegen Hochwassergefahr nicht mehr aufgebaut werden. Bei vielen anderen in Überschwemmungszonen sind Sondergenehmigungen nötig. Es geht um hochwasserangepasstes Bauen - etwa ohne Öltanks und Stromsicherungskästen im Keller oder Erdgeschoss.
Bürgermeisterin Weigand warnt davor, dabei einfach die Erfahrungen von Neubauten am Rhein zu übernehmen: "Da steigt das Hochwasser nicht so schnell wie bei uns in der Flutnacht. Bei uns sind auch viele Autos und Baumstämme irgendwo gegengedonnert - wir haben enorme Anpralllasten bei hoher Fließgeschwindigkeit." Weigand empfiehlt, im engen Ahrtal zwischen Schieferfelsen auf Erfahrungen beim Bauen in den Alpen zurückzugreifen: "Bei uns ist ein Hochwasser eher gebirgsbachmäßig."
Quelle: ntv.de, Jens Albes, dpa