Zwischen Lenin und Harry Potter Besuch in Transnistrien: Ein Land, das es nicht gibt


Der russische Revolutionsführer Lenin vor dem Parlamentsgebäude in Tiraspol.
(Foto: picture alliance / dpa)
Im Osten Moldaus haben prorussische Separatisten Anfang der 1990er-Jahre einen Scheinstaat errichtet. Seither wird in Transnistrien der Geist der Sowjetunion konserviert. Besucher stoßen aber nicht nur auf Lenin-Verehrung, sondern auch auf Nazi-Relikte, einen zwielichtigen Monopolisten und Harry Potter.
Schwermütige russische Rockmusik tönt aus dem Radio der vollgepackten Marschrutka, die von Moldaus Hauptstadt Chișinău nach Transnistrien ruckelt. Politisch sind die Verbindungen auf ein Minimum beschränkt, praktisch pendeln die Sammeltaxis ganztägig vom Busbahnhof auf der einen zum Busbahnhof auf der anderen Seite. Menschen mit Rucksäcken und Handtaschen auf dem Schoß sitzen dicht an dicht, wer stehen muss, versucht nicht umzufallen. Der Minibus hat schon bessere Zeiten erlebt, die Landstraße ebenfalls, dafür kostet die Fahrt umgerechnet nur ein paar Euro.
Nach einer knappen Stunde kommen uns Militärposten entgegen. Soldaten mit Maschinengewehren stehen leidenschaftslos herum und sichern eine Grenze, die völkerrechtlich nicht existiert. Transnistrien hat sich im Durcheinander der kollabierenden Sowjetunion zwar für unabhängig erklärt, wird jedoch von keinem anderen Land anerkannt. Moldau betrachtet die Separatistenregion weiterhin als Teil seines Staatsgebiets.

Ein Wandgemälde huldigt Kosmonaut Juri Gagarin, den ersten Menschen im Weltraum.
(Foto: Marc Dimpfel)
Die Ursachen des Konflikts reichen lange zurück. Kurz gesagt sahen sich die russischen Muttersprachler in Transnistrien bedroht vom erstarkenden Nationalismus der Moldauer, die mehrheitlich Rumänisch sprechen. 1992 kam es zu einem kurzen, blutigen Krieg, der durch Artilleriefeuer der russischen Armee einseitig entschieden wurde. Seither entzieht sich die schmale Landbrücke an der Grenze zur Ukraine der Kontrolle Chișinăus und verfügt im Prinzip über alles, was einen Staat so ausmacht: ein eigenes Parlament, eigene Behörden, eine eigene Währung.
Doch unter der Oberfläche dominieren Korruption und mafiöse Strukturen, die internationale Isolation untergräbt jede wirtschaftliche Entwicklung. Überleben kann der Phantomstaat nur dank Moskaus Gnaden, im Gegenzug steht er dem Kreml quasi zur freien Verfügung. Bis zu 3000 russische Soldaten sollen in Transnistrien stationiert sein, sie bewachen ein gewaltiges Munitionsdepot.
"Have an nice trip"
Der Aufnäher am Oberarm weist den Grenzsoldaten als Angehörigen der transnistrischen Armee aus: Die rot-grün-roten Streifen mit Hammer und Sichel in der oberen linken Ecke bildeten einst schon die Flagge der Moldauischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Alle Marschrutka-Passagiere müssen aussteigen, reihen sich vor einem Kassenhäuschen auf und zücken die Pässe.
Den deutschen Pass beäugt der Uniformierte hinter der Glasscheibe besonders gründlich. Was wir vorhaben? Tourismus. Wie lange wir bleiben? Zwei Nächte. "Have a nice trip", sagt der Soldat und reicht uns eine Art Kassenbon, auf dem An- und Abreisezeit vermerkt sind. Den sollten wir besser nicht verlieren, hatten uns Freunde aus Moldau geraten, sonst bekämen wir Probleme. Und Probleme kosten hier vor allem Geld. Ohnehin empfiehlt es sich, ausreichend Bargeld einzupacken, denn westliche Kreditkarten funktionieren nirgends.
Als die Marschrutka wenig später in die Hauptstadt Tiraspol einfährt, ist das Erste, was auffällt: kein Handyempfang. Und das Zweite: ein für diesen Ort überdimensional anmutendes Fußballstadion. Die Heimstätte von Sheriff Tiraspol, Rekordmeister der ersten moldauischen Liga. Vor ein paar Jahren qualifizierte sich Sheriff sogar für die Champions League und gewann ein Spiel gegen Real Madrid. Der gesamte Stadionkomplex mitsamt Trainingsanlagen hat 200 Millionen Euro gekostet, eine in Transnistrien astronomische Summe.
Geld und Erfolg verdankt die Mannschaft ihrem Namensgeber und Besitzer, dem Sheriff-Konzern. Dieser hält in Transnistrien das Monopol auf fast alles und ist im Stadtbild entsprechend präsent. An Tankstellen und Supermärkten prangt das Logo mit dem Sheriff-Stern, auf dem Fünf-Rubel-Schein ist die Konzernzentrale abgebildet. Das Unternehmen produziert und exportiert Alkohol und Kaviar, betreibt eine Bank, TV-Sender und das Mobilfunknetz. 60 Prozent der Wirtschaftsleistung des Gebiets sollen auf Sheriff zurückgehen, offizielle Zahlen gibt es nicht.
Oligarch als Schattenpräsident

Im Restaurant mit dem passenden Namen "Back to the USSR" gibt es neben viel Kommunismus-Kitsch auch ein günstiges Mittagessen.
(Foto: Marc Dimpfel)
Die Fäden zieht Konzernchef Viktor Gushan, ein öffentlichkeitsscheuer, milliardenschwerer Oligarch, auf dessen frühere KGB-Karriere der Firmenname zurückgehen soll. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Gushan es durch Vetternwirtschaft, windige Geschäfte und Skrupellosigkeit gegenüber Konkurrenten bis zum mächtigsten Mann Transnistriens gebracht. Unabhängige Beobachter sehen ihn als eigentlichen Machthaber. Eine von Gushan finanzierte Partei hält 29 von 33 Sitzen im Parlament. Der frühere Präsident der Region, Jewgeni Schewtschuk, behauptete 2017, Gushan habe die Anweisung gegeben, ihn umzubringen. Schewtschuk floh ins Exil.
Der Ruf eilt Transnistrien voraus, sodass es kaum verwundert, dass wir im Lenin Hostel auf der Lenin Straße die einzigen Gäste sind. Die Schlüssel übergibt uns Dmitri, ein sportlicher, hartes Englisch sprechender Mittdreißiger, der sich ärgert. Schon wieder sei eine Reservierung storniert worden. "Denen hat jemand in Chișinău erzählt, in Transnistrien könnten sie entführt werden oder im Gefängnis landen. Bullshit." Auf Tiktok habe er gesehen, wie in London Kleinkriminelle auf E-Scootern Passanten das Smartphone aus der Hand reißen. "Sowas gibt es bei uns nicht."
Panzer und Lenin
Und es stimmt, von derartigen postmodernen Auswüchsen ist in Tiraspol nichts zu vernehmen. Charmant-klobige Oberleitungsbusse karjuckeln durch eine verschlafene Plattenbaukulisse. Neben jeder transnistrischen Fahne weht die russische. Entlang der zentralen Hauptstraße reihen sich Denkmäler, die an glorreiche Zeiten und glorreiche Siege erinnern: Katharina die Große, ein T-34-Panzer der Roten Armee und selbstverständlich Lenin. Der Revolutionsführer erhebt sich auf einer steinernen Stehle vor dem kargen Parlamentsgebäude, als wäre der Eiserne Vorhang ungeöffnet.
In Transnistrien, so scheint es, wurde mit der Unabhängigkeitserklärung ein Zeitalter konserviert. Die Sowjet-Nostalgie auf die Spitze treiben Restaurants wie das "Back in the USSR", das mit einer ausrangierten Wolga vor der Tür, Kellnerinnen in weißen Schürzchen und Servierhauben sowie allerlei Kommunismus-Kitsch aufwartet. Zwischen Marx-Büsten, Lenin-Gemälden und Borschtsch wird hier jedes Klischee bedient.
Für den fotografierend herumlaufenden Westler hat das alles etwas von Freilichtmuseum. Wer in Transnistrien geboren wird, lebt jedoch häufig in Armut oder sucht anderswo sein Glück. Die Zahl der Einwohner hat sich Schätzungen zufolge von rund 700.000 im Jahr 1990 halbiert auf nur noch etwa 350.000, viele davon sind Rentner.
Was macht Harry Potter hier?
Für Stirnrunzeln sorgt indes eine weitere, vor dem Universitätsgebäude platzierte Heldenstatue: Harry Potter. Mit Eule Hedwig auf dem Handgelenk steht der Zauberlehrling in der Mitte eines ausgeschalteten Springbrunnens. Ein Ansporn an die Studierenden, über sich hinauszuwachsen? Ein Stück westliche Popkultur als Gegenentwurf zum allgegenwärtigen Lenin? Eine Taxifahrerin zuckt auf Nachfrage lachend mit den Schultern. Vielleicht muss man in Transnistrien manche Dinge einfach hinnehmen.
Mit dem Trolleybus geht es von Tiraspol ins benachbarte Bender, vorbei an Checkpoints mit Soldaten, die diesmal die russische Flagge an der Uniform tragen. Am Ufer des Flusses Dnister steht die als Sehenswürdigkeit beworbene Festung Bender, ein steinerner Bau aus dem 15. Jahrhundert mit Zinnen und Kanonenschächten, in der es menschenleer ist.
Im Inneren der Anlage befindet sich außerdem eine Waffenausstellung, deren Kontext sich nicht so recht erschließen will. Begutachten lassen sich nicht nur Kalaschnikows und Colts, sondern auch allerlei Nazi-Devotionalien wie ein Stahlhelm mit Hakenkreuz und eine nachgebildete SS-Uniform. Zudem geben Info-Tafeln Einblick in die hiesige Geschichtsschreibung: Russische "Friedenstruppen" intervenierten demnach 1992, um einen "blutigen Genozid" an der transnistrischen Bevölkerung zu verhindern.
Separatistenregion ohne Gas
Wie abhängig Transnistrien vom Kreml ist, zeigte sich Anfang des Jahres, als die Einwohner über Monate frieren mussten. Lange erhielt die Abtrünnigenregion Gas aus Russland, nahezu zum Nulltarif. Als dann der Gastransit über die Ukraine im Januar verebbte, geriet Transnistrien unter die Räder. Hostelbesitzer Dmitri erzählt, wie sie sich bei Minusgraden in mehrere Kleidungsschichten packten, weil kaum noch eine Heizung lief. Immer wieder sei der Strom stundenlang ausgefallen, das öffentliche Leben habe weitestgehend brach gelegen. Moldau half letztlich mit Gaslieferungen aus, bezahlt von der EU.
In einer Kneipe lernen wir Dasha und Sergej kennen, beide leben in Chișinău, besuchen aber regelmäßig Tiraspol, weil man dort steuerfrei Sportwetten könne. Wir bestellen Wodka und Kepta Duona, köstliche, geröstete Schwarzbrotstücke. Die 21-jährige Dasha ist in Transnistrien geboren und aufgewachsen, nach Chișinău zog sie zum Studium. Beide sprechen lieber über Wettquoten als über Politik, ihr Blick auf die Regierungen östlich und westlich des Dnister ist nihilistisch bis pragmatisch.
Klar, Transnistrien sei eine Sheriff-Oligarchie, doch die moldauische Regierung unter der EU-freundlichen Präsidentin Maia Sandu nicht minder korrupt, sagt Dasha. Den Krieg in der Ukraine findet sie schrecklich, für Transnistrien allerdings tue Russland viel. Als Beispiel nennt sie die Renten, die teilweise oder komplett vom russischen Staat bezahlt werden.
Am nächsten Morgen sitzen wir wieder in der Marschrutka, schweigend überprüft eine transnistrische Soldatin Pässe und Einreise-Tickets. Die moldauische Seite führt keine Kontrollen durch, die Grenze existiert für sie schließlich nicht. Dann kehrt der Handyempfang zurück.
Quelle: ntv.de