Glockenklang als Information Spanier erweckt Sprache der Glocken wieder
13.07.2024, 13:21 Uhr Artikel anhören
Josep-Maria Grosset, ein Schüler der Glöcknerschule, spielt zwei Bronzeglocken im Glockenturm der Kirche Sant Romà aus dem 12. Jahrhundert in Joanetes.
(Foto: dpa)
Vor der Erfindung von Telefon und Internet waren Glocken die wichtigsten Kommunikationsmittel. In Spanien versucht ein Mann, diese Tradition wiederzubeleben. Mit Erfolg: Seine Schule ist so beliebt, dass er bereits eine Warteliste für den nächsten Kurs hat.
Xavier Pallàs pflanzt seine Füße fest auf den Boden des Glockenturmes, greift das Seil, zieht und füllt das üppig-grüne spanische Tal unten mit dem hallenden Geläut einer bronzenen Kirchenglocke. Die metallene Melodie zu erzeugen, erfordert nicht nur physische Kraft, sondern auch Können und völlige Hingabe. Für Pallàs ist jeder Klang sozusagen auch ein Wort und zusammen sind sie eine Sprache, die verbinden soll, mit jedem Zug des Glöckners am Seil. Dann überlässt er den Turm wieder der Stille und die Musik im Tal den singenden Vögeln und krähenden Hähnen.
Für die meisten Menschen sind Kirchenglocken vielleicht nur so etwas wie ein idyllisches automatisiertes Hintergrundgeräusch. Aber Pallàs und seine 18 Schüler an der Schule für Glöckner in La Vall d'en Bas versuchen, das zu ändern, indem sie die schwindende Kunst wiederbeleben, dem Klang der Glocken durch das Läuten von Hand eine Botschaft mitzugeben.
Der Wechsel zu mechanischen Läutvorrichtungen im Laufe des vergangenen Jahrhunderts habe die dynamischen Lieder der Glocken sozusagen abgeflacht und ihnen ihre Botschaftskraft genommen, sagt Pallàs, der Gründer und Direktor der Schule. Wenn Glocken gekonnt geläutet würden, könne ihr Klang anhand der verschiedenen Sequenzen, Töne und Rhythmen etwas aussagen, etwa eine Zeit der Freude oder der Trauer einläuten oder auch einen Notfall anzeigen, der etwa tatkräftige Hilfe von Gemeindemitgliedern erfordert.
Glöckner als öffentlicher Lautsprecher
"Jahrhunderte lang war das Läuten von Kirchenglocken unsere wichtigste Kommunikationsmethode", sagt der Spanier auf dem Glockenturm, der ihm zugleich als Klassenzimmer dient. "Maschinen können nicht den Reichtum der Töne wiedergeben, den wir früher gehört haben und somit hat es eine Vereinfachung und Vereinheitlichung des Glockenläutens gegeben. Die Sprache ist nach und nach verloren gegangen, bis jetzt, da wir schließlich ihren Wert erkannt haben."
Tatsächlich hat Glockengeläut einst wichtige Nachrichten verbreitet, bevor es Zeitungen, Radio, Telefone, Fernsehen und das Internet gab. Ein Glöckner war so etwas wie eine menschliche Uhr und ein öffentlicher Lautsprecher. Während sich das manuelle Glockenläuten in östlichen orthodoxen Ländern gehalten hat, ist es in westeuropäischen katholischen und protestantischen Kirchen weitgehend durch mechanische Läutsysteme ersetzt worden, die Glocken in ihre Pendelbewegung bringen.
Pallàs findet, viele spanische Kirchenglockentürme, die in den 1970ern und 1980ern automatisiert wurden, seien heute in schlechtem Zustand. Als er die Türme im Landkreis Garrotxa, einem Bezirk im nordöstlichen Katalonien, untersuchte, sei er auf zahlreiche Missstände gestoßen - beispielsweise in der Kirche Sant Romà aus dem 12. Jahrhundert in Joanetes. Das kleine Dorf liegt etwa zwei Autostunden von Barcelona entfernt. Dort hat er in den vergangenen zehn Monaten alle vier Wochen samstags Unterricht im manuellen Glockenläuten erteilt. Sein erster Kurs dieser Art mit 18 Teilnehmern ist in der vergangenen Woche zu Ende gegangen.
"Weil die letzte Generation von Glöcknern ausgestorben war, gab es nur einen Weg - neue darin auszubilden. Und so wurde die Idee der Schule geboren", sagt Pallàs. Seine Initiative kam zwei Jahre, nachdem die UNESCO das manuelle Glockenläuten in Spanien auf seine Liste immaterieller Kulturerbe der Menschheit gesetzt und dabei speziell ihren Wert als frühzeitiges Verbindungsmittel gewürdigt hatte.
"Du fühlst dein Blut pumpen"
Die Absolventen der Glöcknerschule sind Männer und Frauen aus ganz verschiedenen Berufen, vom Ingenieur bis zur Lehrerin. Ein Teilnehmer ist 20 Jahre alt, andere sind bereits Ruheständler. Und sie alle sind fasziniert vom Klang von Glocken. In den vergangenen Monaten haben sie alte Geläut-Sequenzen studiert, ihre Ursprünge aufgezeichnet und gelernt, sie nachzuspielen. Zu dieser ethnografischen Aufgabe gehört es, alte Glöckner oder deren Familienangehörige aufzusuchen, um ihr Wissen aufzuzeichnen.
Zum Abschluss des Kurses geben die Schüler eine Kostprobe ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten. Roser Sauri nutzt die Gelegenheit zu einer Rückbesinnung auf ihre Familiengeschichte. Sie hat eine Läutsequenz ausfindig gemacht, die im Heimatdorf ihres Großvaters erklang, als dieser getauft wurde. Jetzt spielt sie diese nach. "Die Glocken haben einen Teil meines Lebens gebildet", sagt Sauri, die heute beruflich mit künstlicher Intelligenz arbeitet, mit Blick auf ihre Kindheit.
Zum Kursabschluss wechseln sich die Schülerinnen und Schüler dabei ab, Sequenzen von allem Möglichen zu läuten, vom Aufruf zur Ostermesse über das Anfordern von Hilfe zum Bekämpfen eines Feuers bis hin zu Schlecht-Wetter-Warnungen. Sie demonstrieren, wie man Arbeiter per Glockenklängen auffordert, zur Weizenernte zurückzukehren oder Hausfrauen informiert, dass frischer Fisch auf den Markt kommt - Preisangabe inklusive. Andere läuten Todesmitteilungen, aus denen man sogar das Geschlecht und den sozialen Status des Verstorben heraushören kann.
Juan Carlos Osuna, der Kirchenwandbilder malt, läutet eine komplexe Sequenz mit allen vier Glocken des Turmes. Dazu sitzt er auf einem Stuhl und schlingt die Glockenseile um seine Hände und Füße. "Es ist eine emotionale Erfahrung. Du fühlst dein Blut pumpen. Du fühlst die Stärke und wie du mit jedem in Hörweite kommunizierst", schwärmt er. "Für mich ist es eine Ehre, ein Weg, sowohl Menschen und Gott zu ehren."
Pallàs träumt davon, irgendwann in jedem Glockenturm einen Glöckner zu haben. Doch er wisse, dass das utopisch sei, sagt er. Aber seine Initiative ist ein guter Anfang. Sämtliche Plätze in seiner nächsten Klasse im Herbst sind bereits vergeben, und ungefähr 60 weitere Interessenten stehen auf einer Warteliste.
Quelle: ntv.de, Joseph Wilson, AP