Panorama

Deutschland der "Puff Europas"? "Manche Narrative zur Prostitution halten sich - ohne Belege"

Frauen im Bordell - das ist nur ein Teil der Prostitution in Deutschland.

Frauen im Bordell - das ist nur ein Teil der Prostitution in Deutschland.

(Foto: picture alliance/dpa)

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner will ein Sexkaufverbot und spricht von Deutschland als "Puff Europas". Woran sie das festmacht? Unklar, weil es kaum Zahlen gibt. Trotz Prostitutionsschutzgesetz findet ein Großteil weiter im Verborgenen statt. Solche Narrative halten sich über längere Zeit, obwohl es nicht wirklich Belege dafür gebe, sagt der Kriminologe Tillmann Bartsch. Mit seinem Team am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen hat er 2300 Prostituierte zu ihrer Situation befragt - die bislang größte Untersuchung dieser Art zum Prostituiertenschutzgesetz.

ntv.de: Deutschland sei der "Puff Europas" - das behauptet Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, aber vor ihr schon viele andere. Helfen so steile Äußerungen irgendwie in der ganzen Debatte?

Tillmann Bartsch: Als Wissenschaftler würde ich diese Formulierung so nicht benutzen, weil wir uns über manches aus wissenschaftlicher Sicht nicht so genau im Klaren sind. Das geht schon bei der Zahl der Prostituierten los. Die Kenntnis dieser Zahl wäre ja wichtig zur Beantwortung der Frage. Tatsächlich wissen wir noch nicht mal, wie viele Menschen in Deutschland der Prostitution nachgehen. Da gibt es zwar Schätzungen, die jedoch himmelweit auseinandergehen. Das beginnt bei 90.000, geht über 200.000 und 400.000 bis hin zu 800.000 Personen. Wenn man all diesen Zahlen nachgeht, kommt man zu dem Schluss: Keine ist ausreichend belastbar, um darauf wirklich Aussagen zu stützen. Und schon deshalb und auch wegen zahlreicher weiterer Unklarheiten halte ich diese Aussage als Wissenschaftler für schwierig.

Dennoch hält sich die Behauptung hartnäckig seit mehr als einem Jahrzehnt.

Ich habe im Rahmen unserer Forschung gelernt, dass manches sich sehr hartnäckig hält, obwohl man nicht wirklich Belege dafür findet. Es gibt einfach Narrative, die in Bezug auf die Prostitution sehr beständig sind. Dazu gehört das "Bordell Europas" oder die Behauptung, dass besonders viele Prostituierte, die Opfer von Zwang sind, nach Deutschland kämen, wenn internationale Fußballmeisterschaften stattfinden. Wenn man fragt: Worauf gründen sich denn diese Behauptungen ganz genau?, findet man keine ausreichenden Antworten. Aber ich nehme das als Wissenschaftler zur Kenntnis und ordne das dem Bereich der politischen Auseinandersetzung zu.

Eine dieser Behauptungen ist auch, dass Prostituierte vor der Legalisierung im Jahr 2002 überwiegend die deutsche Staatsangehörigkeit hatten und sich das mit dem Prostitutionsgesetz stark verändert hätte. Wie ist es damit?

Da sollte man berücksichtigen, dass die EU in dem Zeitraum einige neue Mitgliedsländer aufgenommen und Migration auch sonst in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Doch auch hier können wir nicht genau sagen, wie viele Menschen aus dem Ausland bei uns in der Prostitution tätig sind und wie viele Menschen aus Deutschland. Sicher wissen wir nur, welche Staatsangehörigkeiten diejenigen besitzen, die sich angemeldet haben, doch auch diese Daten sind sehr wahrscheinlich nicht repräsentativ.

Das erste Gesetz wurde überarbeitet und seit 2017 ist das Prostituiertenschutzgesetz in Kraft. Das haben sie evaluiert. Inwieweit, würden Sie sagen, hat sich seitdem etwas verändert in der Prostitution?

Till­mann Bartsch ist stellvertretender Direktor am Kri­mi­no­lo­gi­schen For­schungs­in­sti­tut Nie­der­sach­sen (KFN), das kürzlich das Prostituiertenschutzgesetz evaluiert hat.

Till­mann Bartsch ist stellvertretender Direktor am Kri­mi­no­lo­gi­schen For­schungs­in­sti­tut Nie­der­sach­sen (KFN), das kürzlich das Prostituiertenschutzgesetz evaluiert hat.

(Foto: Kri­mi­no­lo­gi­sches For­schungs­in­sti­tut Nie­der­sach­sen (KFN))

Wir haben in der Evaluation nach der Wirkung des Prostituiertenschutzgesetzes gefragt und sind zu dem Schluss gekommen: Ja, dieses Gesetz hat Schwächen, ganz ohne Zweifel. Wir sehen aber auch positive Aspekte und sind der Auffassung, dass die Schwächen größtenteils behebbar sein dürften. Deshalb sagen wir, dass man diesem Gesetz durchaus eine Chance geben sollte.

Was funktioniert schon gut?

Das Anmeldeverfahren etwa funktioniert in mancherlei Hinsicht ganz gut. Wer als Prostituierte tätig sein will, muss ein Informations- und Beratungsgespräch durchlaufen. Dazu gehört auch eine gesundheitliche Beratung. Beides bewerteten die von uns befragten Prostituierten und auch Beraterinnen in den Behörden recht positiv, insbesondere was die Information zu Rechten und gesundheitlichen Präventionsmöglichkeiten betrifft. Und das waren mit die Ziele dieses Gesetzes. Allerdings meldet sich nur ein Teil der Prostituierten an, weil das Verfahren zu hohe Hürden hat.

Sie haben auch, was eine Besonderheit ist, direkt mit Prostituierten gesprochen. Meistens wird über sie gesprochen. Was sind das für Frauen?

Ich glaube, die Frage lässt sich so nicht beantworten, weil es "die" Frau, die sich prostituiert, nicht gibt. Die Prostitution besteht aus sehr, sehr vielen Feldern. Der Begriff, den der Gesetzgeber für die Prostitution gewählt hat, ist sehr weit. Darunter fällt auch die Sexualbegleitung, also etwa für Menschen, die aus Behinderungsgründen keine Sexualität haben können und jemanden brauchen, der ihnen beim Ausleben der Sexualität hilft. Es geht weiter über die Tantra-Massage bis zu den klassischen Bereichen wie Bordellprostitution, Wohnungsprostitution und Straßenprostitution. Dann gibt es noch den Dominabereich und so weiter. In all diesen Bereichen trifft man auf ganz unterschiedliche Menschen.

2300 Prostituierte haben Sie befragt. Inwieweit können die Antworten repräsentativ sein, wenn es doch so unterschiedliche Felder sind?

Das ist eine sehr berechtigte Frage. Bevor wir gestartet sind, hatten wir 30 Veranstaltungen in ganz Deutschland, in denen wir die Untersuchung vorgestellt haben. Schon damals ist mir die Frage gestellt worden: Herr Bartsch, inwieweit werden die Ergebnisse repräsentativ sein, die Sie vorlegen? Und ich habe schon damals, also vor Start der Untersuchung, gesagt: Ich werde Ihnen diese Frage nach Abschluss nicht beantworten können.

Warum war Ihnen das damals schon so klar?

Wenn wir nicht wissen, wie viele Menschen in Deutschland in der Prostitution tätig sind und in welchen Bereichen wie viele von ihnen tätig sind, kann ich am Schluss nicht sagen, inwieweit die Ergebnisse der Befragungen aussagekräftig sind für die einzelnen Bereiche. Wir wissen eben nicht, wie viele Frauen beispielsweise in der Straßenprostitution tätig sind und wie groß dieser Anteil an der Prostitution in Deutschland ist.

Kritiker werfen der Evaluation genau das vor: Es sei nur im Hellfeld geforscht worden, die nicht angemeldeten Prostituierten bleiben außen vor. Was sagen Sie dazu?

Dieser Vorwurf ist so nicht zutreffend. Von den 2350 Befragten waren gut 1500 Menschen angemeldet, gut 500 waren nicht angemeldet, der Rest hat dazu keine Angabe gemacht. Das heißt, wir haben schon einen erheblichen Teil von Menschen erreicht, der nicht angemeldet ist. Das hat uns dann auch in die Lage versetzt, etwas dazu zu sagen, warum die Menschen sich nicht anmelden. Frühere Studien, die viel zitiert worden sind, haben häufig ausschließlich oder vornehmlich über Beratungsstellen Kontakt zu Prostituierten aufgenommen. Auf diesem Weg erreicht man hauptsächlich ein bestimmtes Klientel: Menschen, die Beratungsbedarf haben. Wir haben in unserer Studie aber knapp 40 Prozent, die keine Angebote von Beratungsstellen nutzen. Dementsprechend fallen unsere Ergebnisse in Teilen auch abweichend zu dem aus, was frühere Untersuchungen ergeben haben.

Was hat Sie bei der Befragung bei den Antworten überrascht?

Überrascht hat mich, dass die Prostituierten das Anmeldeverfahren und die gesundheitliche Beratung doch recht positiv bewertet haben. Wenn man sich vorher die Stellungnahmen von mancher Selbstvertretungsorganisation von Prostituierten angesehen hat, konnte man den Eindruck gewinnen, dass alle Prostituierten es ganz fürchterlich finden, dass sie sich anmelden müssen und da nun zwingend beraten werden. Das hat sich so in unserer Forschung nicht bestätigt.

Sie sprechen auch die Schwächen des Gesetzes an. 68 Punkte umfasst der Teil - was sind die Hauptkritikpunkte?

Ein Hauptkritikpunkt betrifft einen anderen Aspekt der Anmeldung. Seitens der Behörden soll laut Gesetz darauf geachtet werden, ob es bei der anmeldewilligen Person Anhaltspunkte für Menschenhandel oder Ausbeutung gibt. Wenn die Mitarbeitenden das erkennen, soll die Anmeldung verweigert und sofort Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Die Befragung der Behördenmitarbeitenden hat gezeigt, dass sich nur etwa 20 Prozent dazu vollkommen oder eher in der Lage sehen. Viele der Menschen, die in den Behörden tätig sind, sind unzureichend auf ihre Tätigkeit vorbereitet worden. Häufig haben sie weder eine Vorbereitung noch eine Fortbildung erhalten. Das ist ein Punkt, wo unseres Erachtens dringend angesetzt werden muss.

Da gibt es also erheblichen Schulungsbedarf in den Behörden?

Es gibt durchaus Kriterien, woran man erkennen kann, ob Menschen von Menschenhandel oder Ausbeutung betroffen sind. Dann ist da aber natürlich die Herausforderung, das in einem solchen Beratungsgespräch zu erkennen. Das geht nur durch intensive Schulung und hat mit Erfahrung zu tun. Manche Bundesländer wie Schleswig-Holstein haben die Anmeldung zentralisiert. Da gibt es gegebenenfalls auch Spezialisten, die viele Fälle bearbeiten. Doch es gibt auch Bundesländer, in denen jede Kommune mit 7500 Einwohnern für die Umsetzung des Prostituiertenschutzgesetzes zuständig ist. Da gibt es Kommunen, in denen in fünf oder sechs Jahren vielleicht zwei Prostituierte waren, um sich anzumelden. Dann ist doch klar, dass es nicht funktionieren kann, tatsächlich Betroffene vom Menschenhandel zu erkennen. Deshalb fordern wir, die Anmeldung behutsam zu zentralisieren, damit die zuständigen Mitarbeitenden mehr Fälle bearbeiten und so mehr Erfahrung gewinnen.

Sie fordern in der Evaluation des Gesetzes auch mehr gesellschaftliche Aufklärung, mehr Maßnahmen vom Staat, die "deutlich machen, dass es sich um einen verfassungsrechtlich anerkannten und daher auch gesellschaftlich anzuerkennenden Beruf handelt". Heißt das nicht im Umkehrschluss, es sollte normal sein, dass eine 16-Jährige ein Schülerpraktikum im Bordell macht?

Nein, das heißt es nicht. Und tatsächlich geht auch der Gesetzgeber mit dem Prostituiertenschutzgesetz in keiner Weise davon aus, dass es sich bei der Prostitution um einen Beruf wie jeden anderen handelt. Was man am häufigsten in den Gesetzesmaterialien findet, ist die Aussage: Prostitution ist ein Beruf, aber es ist kein Beruf wie jeder andere. Warum ist es kein Beruf wie jeder andere? Der Gesetzgeber sagt, meines Erachtens zu Recht: Die Prostitution kann mit erheblichen Risiken verbunden sein. Prostitution birgt Gefahren für die sexuelle Selbstbestimmung und für die Gesundheit. Hinzu kommt: Die Prostitution ist kein Ausbildungsberuf, sondern jeder kann diese Tätigkeit aufnehmen, ohne in irgendeiner Weise auf die Risiken vorbereitet zu sein. Und das erklärt, warum der Gesetzgeber Sonderregelungen trifft, dass er sagt: Menschen müssen sich für den Prostitutionsberuf anmelden und bei einer Behörde ein Informations- und Beratungsgespräch wahrnehmen. So ist zumindest in einem Mindestmaß sichergestellt, dass die Menschen über ihre Rechte und gesundheitliche Risiken aufgeklärt werden und wissen, an welche Stellen sie sich wenden können, wenn es zu problematischen Situationen kommt. Das ist ein Kerngedanke des Prostituiertenschutzgesetzes, was in der politischen Debatte ein bisschen untergeht.

In der Debatte spricht sich mit Nina Warken jetzt eine Ministerin aus dem Bundeskabinett für eine Gesetzesänderung aus und zwar für ein Sexkaufverbot nach Nordischem Modell. Wie blicken Sie darauf?

Das wäre wirklich ein Paradigmenwechsel. Ich muss dazu sagen, dass wir mit der Evaluation keinen Vergleich angestellt haben, ob das Nordische Modell dem deutschen Modell überlegen ist. Das war nicht unser Auftrag. Es gibt aber viele Studien zum Nordischen Modell. Sie kommen sehr häufig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, was die Wirkungen, die man diesem Modell zuschreibt, angeht. Ich sehe bisher keine ausreichend klaren Befunde. Allgemein muss man sich bezüglich des Nordischen Modells aber sehr viele Fragen stellen: Wozu soll es genau dienen? Soll es weniger Prostitution geben? Soll sich die gesellschaftliche Haltung gegenüber Prostitution ändern? Soll es weniger Menschenhandel geben? Klappt das alles? Wie steht es bei einem Nordischen Modell um die Gesundheit der Menschen, die trotzdem weiterhin in der Prostitution tätig sind? Wie steht es um den Schutz vor Gewalt der künftig tätigen Prostituierten und die Erreichbarkeit für Beratung und das Verhältnis zu Behörden? Wie um die Stigmatisierung von Prostituierten? All diese und noch zahlreiche weitere Punkte muss man bei der Diskussion über das Nordische Modell genau überlegen. Denn eines ist klar: Prostitution würde auch nach Einführung eines Nordischen Modells weitergehen.

Mit Tillmann Bartsch sprach Johanna Ohlau

Quelle: ntv.de

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