Kritik an Spahns Vorstoß Patientenschützer wollen Notlage erhalten
19.10.2021, 14:59 Uhr
Momentan werden dreimal mehr über 80-jährige Corona-Infizierte im Krankenhaus behandelt als vor einem Jahr.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Die epidemische Lage ist derzeit die rechtliche Grundlage für Corona-Maßnahmen. Bundesgesundheitsminister Spahn fordert ihre Abschaffung. Neben der Deutschen Stiftung Patientenschutz zeigt sich ein Bundesland besonders skeptisch.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz hat den Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zum Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite scharf kritisiert. Das Ende der Notlage müsse auf Fakten beruhen, sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch. "Schließlich haben Bund und Länder anderthalb Jahre erklärt, dass es eine bundesweite Rechtsgrundlage für Corona-Schutzmaßnahmen braucht."
Zudem würden aktuell dreimal mehr über 80-jährige Corona-Infizierte im Krankenhaus behandelt als vor einem Jahr, betonte Brysch. Seien es vor gut einem Jahr noch 176 Patienten gewesen, seien es nun 475 - obwohl 84,9 Prozent dieser Altersgruppe doppelt geimpft seien. Ähnliche Entwicklungen zeigten sich auch bei anderen Altersgruppen. Sogar der Anteil der infizierten Toten habe sich im gleichen Zeitraum fast verfünffacht, sagte Brysch. "Deshalb ist es gefährlich, allein aus fragwürdigem politischen Kalkül die epidemische Lage zu beenden. Schließlich ist die Pandemie nicht vorbei."
Unterstützung bekam Spahn hingegen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Spahns Ankündigung sei "folgerichtig", erklärte KBV-Chef Andreas Gassen. "Ab Ende November könnten die staatlichen Corona-Regeln entfallen." Eine Vorlaufzeit von sechs bis sieben Wochen sei notwendig, damit sich mehr Menschen impfen lassen können, sagte Gassen. "Und ich glaube, das werden sie auch angesichts der Lockerungen von Maßnahmen tun. "Der Freedom Day rückt also schrittweise näher."
Bayern will Lage beobachten
Spahn hatte sich am Montag dafür ausgesprochen, die epidemische Lage von nationaler Tragweite Ende November auslaufen zu lassen. Um sie weiter gelten zu lassen, müsste der Bundestag ausdrücklich die Verlängerung beschließen. Die epidemische Lage ist derzeit rechtliche Grundlage für Corona-Maßnahmen wie Maskenpflicht oder Kontaktbeschränkungen. Diese könnten aber unter Umständen auch ohne das Fortbestehen der epidemischen Lage aufrechterhalten werden.
Experten forderten weitere Konsequenzen. Der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, sagte der "Bild"-Zeitung: "Wir brauchen die anlasslosen Corona-Massentests in Schulen nicht mehr. Denn Kinder erkrankten selten schwer an Corona." Der riesige logistische Aufwand der Schnell-Tests lohne sich nicht und führe nicht selten zu falschen Ergebnissen.
Auch die bayerische Staatsregierung sieht den Plan von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn für ein Auslaufen der sogenannten "epidemischen Lage nationaler Tragweite" aktuell sehr skeptisch. "Wir sind, was dieses Apodiktische von Herrn Spahn betrifft, zurückhaltend, weil wir nach wie vor den Kurs der Vorsicht und Umsicht verfolgen", sagte Staatskanzleichef Florian Herrmann nach einer Kabinettssitzung in München. Die Frage stelle sich aber auch erst Ende November - bis dahin müsse man die Corona-Lage sehr genau beobachten. Bayern sei deshalb aktuell auch noch nicht festgelegt - "aber wir sind da insgesamt sehr vorsichtig".
Notlage seit März 2020
Die Entscheidung über ein Ende der "epidemischen Lage nationaler Tragweite" liegt beim Bundestag. Das Parlament hatte sie erstmals im März 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie festgestellt und danach immer wieder verlängert, zuletzt Ende August für drei Monate. Sie läuft aus, wenn sie vom Parlament nicht verlängert wird. Die "epidemische Lage" gibt Bundes- und Landesregierungen Befugnisse, um Verordnungen zu Corona-Maßnahmen oder zur Impfstoffbeschaffung zu erlassen.
Das Virus richte sich nicht nach Beschlüssen von Parlamenten, sagte Herrmann und mahnte: "Man muss bedenken, dass von diesem Beschluss auf der Bundesebene sehr viel rechtliche Folgen abhängen." Insbesondere, ob man wie bisher auf der Basis der Corona-Verordnungen Regelungen zum Schutz der Bevölkerung treffen könne. Das betreffe dann nicht nur die 2G- oder 3G-Regeln, sondern auch Dinge wie die Maskenpflicht im Nahverkehr oder die Testpflicht an Schulen. "Das muss man sich halt vor Augen halten, ob man diese Konsequenz will", sagte Herrmann, vor allem wenn man den Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenzen bei Jüngeren sehe. Die Frage sei deshalb, ob man sich dem Ganzen nicht differenzierter nähern müsse.
Quelle: ntv.de, lve/dpa/AFP