"Himmel und Hölle lagen dicht beieinander" Scharfe Kritik an Veranstaltern - Warnungen im Vorfeld
25.07.2010, 19:28 Uhr
Tausende Menschen kommen zum Unglücksort und legen Blumen nieder, zünden Kerzen an.
(Foto: dpa)
Nach dem Unglück bei der Loveparade in Duisburg ermittelt die Staatsanwaltschaft. Alle 19 Opfer können inzwischen identifiziert werden. Scharfe Kritik wird an Stadt und Organisatoren laut. Der Veranstalter habe 500.000 Menschen für die Loveparade angemeldet, heißt es - 250.000 seien genehmigt worden. Polizei und Feuerwehr sollen bereits vor der Loveparade Sicherheitsbedenken geäußert haben. "Es wurde nicht reagiert", sagt ein Beamter. Ein DJ berichtet von surrealen Szenen - Trauer und Tanz nah beieinander.
Nach der Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg mit hat die Suche nach den genauen Ursachen für das Unglück begonnen. und die Polizeigewerkschaft äußerten scharfe Kritik an den Sicherheitsvorkehrungen bei dem Raver-Spektakel. Nach Presseberichten waren bereits im Vorfeld Warnungen erhoben worden, das Gelände und seine Zugänge seien für die Massenveranstaltung ungeeignet. In Gedenken an die Toten flaggt das Land Nordrhein-Westfalen auf Halbmast. Die Trauerbeflaggung sei ein Zeichen der Anteilnahme für die Opfer und ihre Angehörigen, hieß es.
Nach Ansicht der Deutschen Polizeigewerkschaft begann das Sicherheitsproblem möglicherweise schon mit der Fehleinschätzung der Teilnehmerzahl. Der Veranstalter habe 500.000 Menschen angemeldet, sagte Erich Rettinghaus, NRW-Landesvorsitzender der Gewerkschaft, im ZDF. Die Stadt habe seiner Kenntnis nach aber nur 250.000 Teilnehmer für das Gelände genehmigt. Man sei davon ausgegangen, dass sich die restlichen Partygänger an anderen Orten der Stadt verteilten, erläuterte Rettinghaus. Vor der Loveparade hatte Veranstalter Rainer Schaller im n-tv.de Interview gesagt, er erwarte "weit über eine Million" Besucher.
Alle Opfer identifiziert
Inzwischen wurden auch alle 19 Opfer identifiziert, es handelt sich um elf Frauen und acht Männer. Die Polizei teilte mit, die elf Deutschen unter den Toten seien aus den Städten Gelsenkirchen, Castrop-Rauxel, Bad Oeynhausen, Bielefeld, Mainz, Lünen, Hamm, Bremen, Steinfurt und Osnabrück angereist. Eine getötete Chinesin lebte in Düsseldorf, zwei junge Spanierinnen kamen aus Münster. Die anderen ausländischen Opfer stammen aus Australien, den Niederlanden, Italien und Bosnien-Herzegowina. Nach dem Unglück verkündete Organisator Rainer Schaller das .
Die Polizei richtete ein Betreuungsangebot für Teilnehmer ein, die Schwierigkeiten haben, die Ereignisse zu verarbeiten. Wie die Polizei Essen mitteilte, können sich Menschen, die ein persönliches Betreuungsangebot in Anspruch nehmen möchten, rund um die Uhr telefonisch unter 0201/8298091 melden oder eine Mail an die Adresse Betreuungsangebot.Loveparade@polizei.nrw.de schicken. Bereits am Samstag hatte die Polizei eine Hotline für Angehörige von Opfern und Vermissten geschaltet: 0203/94000.
Ein Bericht des "Spiegel", wonach die Bundespolizei sämtliche Unterlagen zur Loveparade von ihren Computern gelöscht hat, wurde dementiert. "Alle Einsatzunterlagen sind definitiv vorhanden und können bei Bedarf eingesehen werden", sagte Bundespolizeisprecher Jörg Kunzendorf.
Feuerwehr und Polizei warnten
Das Unglück ereignete sich am Samstag kurz nach 17.00 Uhr an einem überfüllten Tunnel, dem zentralen Zugang zu dem am alten Duisburger Güterbahnhof. Der Duisburger Ordnungsdezernent Wolfgang Rabe sagte der ARD, die späteren Opfer seien offenbar an Absperrungen hochgeklettert und abgestürzt. Der genaue Ablauf des Unglücks blieb aber auch auf einer von Polizei und Veranstaltern unklar. Der stellvertretende Duisburger Polizeipräsidenten Detlef von Schmeling hob hervor, dass es in dem 120 Meter langen Tunnel selbst keine Opfer gegeben habe.

Viele Fragen, wenig Antworten: Pressekonferenz mit Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland, Veranstalter Rainer Schaller, Vize-Polizeipräsident Detlef von Schmeling und Ordnungsdezenent und Leiter des Krisenstabs Wolfgang Rabe (r-l).
(Foto: dpa)
Die Berufsfeuerwehr Duisburg soll Sicherheitsbedenken gegen die Loveparade gehabt und die Stadt auch entsprechend gewarnt haben, berichtet die "Kölner Rundschau". In einem internen Vermerk der Feuerwehr an Verantwortliche der Stadt hätten die Retter bereits im Oktober 2009 klargestellt, dass es zu gefährlich sei, die Besucher des Spektakels durch die Tunnel zu schicken. "Es wurde nicht reagiert", sagte ein Beamter der Zeitung. Auch Oberbürgermeister Adolf Sauerland soll von diesem internen Vermerk gewusst haben. Die Polizei soll demnach ebenfalls Bedenken deutlich gemacht haben. In den Tagen vor dem Musikspektakel habe es eine Begehung des Festgeländes gegeben, wobei Polizisten gesagt haben sollen, dass das Areal des alten Güterbahnhofs zu klein für die Veranstaltung sei.
"Die Stadt ist zu klein und eng"
Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, machte Stadt und Veranstalter für die Tragödie verantwortlich. Wendt sagte, er habe schon vor einem Jahr gewarnt, Duisburg sei kein geeigneter Ort für die Loveparade. "Die Stadt ist zu klein und eng für derartige Veranstaltungen." Der Polizeigewerkschafter sieht das Problem nicht beim Festival-Gelände selbst, sondern bei den Wegen dorthin. Eine Schuld der Polizei sieht Wendt nicht.
Wendt kritisierte auch das Sicherheitskonzept: Auch wenn der Tunnel für die große Zahl von Menschen theoretisch ausreichend gewesen sei, "so hätte man doch bedenken müssen, dass sich die Leute in so einer Situation nicht rational verhalten, sondern aufgeheizt sind und unkalkulierbar werden", betonte der Gewerkschaftschef. Einiges deute darauf hin, dass die Veranstalter sich über Bedenken hinweggesetzt hätten. "Die Stadt Bochum hat solche Einwände ernster genommen und die Loveparade für 2009 abgesagt", sagte Wendt.
Die Toten und Verletzte seien Opfer "materieller Interessen eines Veranstalters, der unter dem Deckmäntelchen der 'Kulturhauptstadt 2010'" Druck ausgeübt habe, sagte der stellvertretende NRW-Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Wolfgang Orscheschek. Duisburger Stadtpolitiker seien "in die Enge getrieben" worden, so dass sie zur Loveparade trotz eindringlicher Warnungen aus dem Sicherheitsbereich nur "ja" sagen konnten.
"Wie etwas völlig Surreales"
Der niederländische DJ Charly Lownoise hat mit zwei Kollegen gerade für die Loveparade aufgelegt, als die Massenpanik ausbrach. Er berichtete im niederländischen Rundfunk, er habe das Drama "wie etwas völlig Surreales" erlebt: "Ich sah Verletzte, Tote und heulende Menschen, die unter Schock standen. Vierzig Meter entfernt waren Leute am Tanzen, die gar nicht mitbekommen hatten, was passiert war. Himmel und Hölle lagen dicht beieinander."
Auch Loveparade-Gründer Dr. Motte kritisierte in seinem Internet-Blog die Sicherheitsvorkehrungen. Ein einziger Zugang durch einen Tunnel berge "die Katastrophe in sich". Eine Raverin sagte im WDR, im Tunnelbereich habe es "einfach gar keine Ausweichmöglichkeit" gegeben. Patrick Günther, ein 22-Jähriger aus dem Kreis Mannheim, sagte, die Organisation sei schlecht gewesen. "Und obwohl es voll war, haben die immer mehr Leute reingelassen."

Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, Kanzleramtsminister Ronald Pofalla und Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (v.r.) besuchen in einem Duisburger Krankenhaus Opfer des Unglücks.
(Foto: dpa)
An der Loveparade hatten laut Organisatoren über den gesamten Tag verteilt 1,4 Millionen Menschen teilgenommen. Polizei und Stadt wollten diese Zahl nicht bestätigen. Ausgelegt war das Partygelände offenbar für weit weniger Menschen. Nach dem Unglück wurden laut Polizei alle Notausgänge des Areals geöffnet, die für den Verkehr gesperrte Autobahn 59 neben dem Güterbahnhof wurde als Fluchtweg freigegeben. Die Techno-Party wurde trotz der Tragödie am Samstagabend fortgesetzt, um weitere Panik zu verhindern.
Politiker legen Blumen nieder
Im Rahmen ihres Ermittlungsverfahrens beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft derweil Unterlagen bei der Stadt. Oberbürgermeister Adolf Sauerland und Rabe bestätigten, sie hätten entsprechende Akten übergeben. Bislang seien zwei Strafanzeigen eingegangen. Die Staatsanwaltschaft Duisburg ermittelt wegen fahrlässiger Tötung. Die Ermittlungen richteten sich gegen unbekannt, sagte Staatsanwalt Rolf Haferkamp.
Bochums früherer Polizeipräsident Thomas Wenner will Oberbürgermeister Sauerland wegen der Tragödie anzeigen. Der "Bild-Zeitung" sagte er: "Ich zeige den Oberbürgermeister der Stadt Duisburg, die leitenden Beamten der Stadt und die Veranstalter an." Eine solche Veranstaltung sei in einer Stadt wie Duisburg auf einem solchen Gelände nie realisierbar gewesen. Wenner hatte 2009 als amtierender Polizeipräsident die für Bochum geplante Loveparade abgesagt. "Schon im vergangenen Jahr gab es kein vernünftiges Konzept. Ich wollte die Sicherheit nicht opfern auf dem Altar der Spaßgesellschaft. Genau das ist nun geschehen", sagte er weiter.
Bundespräsident Christian Wulff reagierte mit auf das Unglück. Die Ursachen müssten "rückhaltlos aufgeklärt werden", forderte er. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich "entsetzt" und "traurig". Kanzleramtschef Ronald Pofalla und Bundesfamilienministerin Kristina Schröder informierten sich in Duisburg über die Lage. Schröder besuchte Verletzte im Krankenhaus. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft legte an der Unglücksstelle Blumen nieder.
Quelle: ntv.de, dpa/AFP/rts