Bis heute dunkle Mysterien Wie Italiens neofaschistische Terroristen davonkamen
02.06.2024, 16:15 Uhr Artikel anhören
Bei dem Bombenanschlag in Brescia im Mai 1974 wurden acht Menschen getötet.
(Foto: IMAGO/TT)
Vor 50 Jahren sterben bei einem Anschlag im italienischen Brescia acht Menschen. Das Attentat ist Teil des neofaschistischen Terrors der 1970er Jahre. Trotz Hunderten Toten bleiben viele der Taten bis heute ungesühnt. Historikerin Tobagi spricht von einer "tragischen Besonderheit" des Landes.
Der Ausdruck "Italiens Mysterien" sei schon fast ein Qualitätszeichen, vergleichbar mit dem Begriff "Made in Italy", schreibt die Historikerin Benedetta Tobagi. Zum Land gehören nämlich nicht nur Sonne, Meer und gutes Essen, sondern auch seine Schattenseiten, Ambiguitäten. Auch sie machen das folkloristische Bild aus, das man von Italien hat. Die Krimiserie der Amerikanerin Donna Leon ist ein Paradebeispiel dafür.

Der erste Anschlag der Attentat-Serie ereignete sich am 12. Dezember 1969 um 16.35 Uhr in der Mailänder Banca Nazionale dell’Agricoltura, der Nationalen Landwirtschaftsbank. Heute erinnert eine Gedenktafel an die Opfer.
Um Italiens Mysterien geht es auch in dem jüngst erschienenen Buch "Le stragi sono tutte un mistero" ("Die Terroranschläge sind alle ein Mysterium") von Tobagi. Anders als bei Leon ist das Erzählte hier allerdings keine Fiktion, sondern die Realität der 1970er Jahre. Es geht um den neofaschistischen Terror jener Jahre und die noch immer von Mysterien umwobenen Bombenanschläge. Es geht darum, dass auch nach Prozessen, die sich über Jahrzehnte hinzogen, Auftraggeber und Ausführende nicht immer eindeutig identifiziert werden konnten. Und das nicht wegen mangelnder Professionalität der Ermittler, sondern weil eben jene in ihrer Arbeit behindert wurden.
Die Autorin beschäftigt sich nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse mit dieser dunklen Seite von Italiens jüngster Geschichte: "Ich selbst trage im Nachnamen ein Stück Geschichte; ich selbst trage, wie so viele andere Überlebende, die Wunden der Attentate in mir", schreibt sie im Vorwort. "Mir wurden sie nicht von den neofaschistischen Bomben zugefügt, sondern vom roten Terrorismus. Eine kleine Fraktion, die sich Brigata XXVIII Marzo nannte und bei den Roten Brigaden Eindruck schinden wollte, hat meinen Vater Walter Tobagi, Journalist, Historiker und Gewerkschaftler am 28. Mai 1980 ermordet. Ich war damals 3 Jahre alt."
Als Leben lebensgefährlich war
Italien in den 1970er Jahren, das war für viele Ausländer das Land unvergesslicher Sommerferien. Für die Italiener war es stattdessen - infolge der Terroranschläge - ein Land, in dem es zunehmend gefährlich schien. Rückblickend spricht man von den "bleiernen Jahren".
Auch wer zu jener Zeit noch zu jung war, um mit den Nachrichten etwas anfangen zu können, hat die Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die die Berichterstattungen begleiteten, bis heute nicht vergessen. Die Kameras zeigten, wenn auch aus der Ferne, leblose Körper inmitten von Schutt und Geröll. Dann schwenkte sie weiter auf verstörte und verletzte Menschen. Um es deutlich zu sagen: Die Terroristen schossen damals wahllos in die Menge. Es konnte jeden treffen. Opfer wurde, wer zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Das erste Attentat ereignete sich am 12. Dezember 1969 um 16.35 Uhr in der Mailänder Banca Nazionale dell'Agricoltura, der Nationalen Landwirtschaftsbank, die gleich hinter dem Dom in Piazza Fontana den Sitz hatte. 17 Menschen kamen ums Leben, 105 wurden verletzt.
Neofaschisten und Geheimagenten
Mit Piazza Fontana begann die sogenannte "Strategie der Spannung", die mit Attentaten verhindern sollte, dass Italien einen politischen Linksruck machte. Wie die Ermittlungen ergaben, waren darin auch Agenten des inländischen Geheimdienstes und Vertreter anderer Staatsapparate, etwa Sicherheitskräfte, verwickelt. Zwischen dem 12. Dezember 1969 und dem 2. August 1980 folgten sechs weitere Anschläge, bei denen insgesamt 135 Menschen ums Leben kamen und mehr als 650 verletzt wurden.
Mittlerweile ist mehr als ein halbes Jahrhundert verstrichen. Auf die Frage, wer damals die Strippen in der Hand hatte, wer hinter dieser Strategie des Terrors steckte, gibt es aber bis heute keine eindeutige Antwort. Es gibt lediglich Berge von Büchern voll mit Spekulationen. Nicht selten wird darin die These vertreten, die USA steckten hinter den Bomben, man befand sich schließlich im Kalten Krieg und Italiens Kommunistische Partei war die größte in ganz Europa.
Tobagi beschäftigt sich mit der Frage, warum die Attentate bis heute von Mysterien umwoben sind. Sie möchte außerdem wissen, warum die Prozesse schier endlos waren und es am Ende trotzdem manchmal zu keiner Verurteilung kam. So etwa im Fall des Italicus Expressnachtzugs von Rom nach München. Es war der 4. August 1974, als kurz vor Bologna eine Bombe, die im Abteil 5 versteckt worden war, explodierte. Zwölf Menschen kamen ums Leben, 44 wurden verletzt. Das Gerichtsverfahren dauerte 19 Jahre, schuldig gesprochen wurde niemand.
Eine tragische Besonderheit
Zu den meisten Attentaten gab es mehrere Gerichtsverfahren - einige dauern bis heute an. Etwa der Prozess um den Bombenanschlag vom 28. Mai 1974, also vor genau 50 Jahren, in der norditalienischen Stadt Brescia. Der Sprengstoff wurde während einer Demo auf der zentralen Piazza della Loggia gezündet: Acht Menschen kamen ums Leben, 102 wurden verletzt. Dazu hat es fünf Prozesse gegeben, der letzte läuft noch. Endgültig verurteilt wurden bis jetzt ein Neofaschist und ein Geheimagent. Das fünfte Gerichtsverfahren wurde erst diesen Februar eingeleitet. Es befasst sich mit den zwei Männern, die noch minderjährig waren, als sie die Bombe mutmaßlich in einem Papierkorb in Piazza della Loggia versteckten.
Für Tobagi liegt der Grund dieser geringen Zahl an Verurteilungen - bis heute sind es 14 - in der Deckung, die Teile der Geheimdienste und des Staatsapparates den Neofaschisten garantiert haben. "Der politische Terrorismus mit staatlicher Deckung ist eine tragische italienische Besonderheit", schreibt sie.
Bestätigt wird die Schlussfolgerung vom verheerendsten dieser Attentate. Es war der 2. August 1980, als um 10.25 Uhr in einem Wartesaal des Hauptbahnhofs von Bologna ein Koffer explodierte. 85 Menschen starben, mehr als 220 wurden verletzt. Die drei materiellen Vollstrecker wurden zu 26 und 16 Jahren Haft verurteilt, die sie mittlerweile abgesessen haben. Auch die Auftraggeber wurden ausgemacht, es handelte sich um den Vorsitzenden der Freimaurerloge Propaganda Due (P2) Licio Gelli, um einen Geheimagenten, einen Politiker und einen Bankier. Als 2020 das endgültige Urteil verkündet wurde, waren alle vier bereits verstorben.
Für jeden dieser Anschläge gibt es einen Gedenktag. An jedem Ort gibt es eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer. Zum 50. Jahrestag der Bombe in Brescia ist sogar Präsident Sergio Mattarella gekommen. Und immer wieder stellen sich die Italiener die Frage: "Werden wir je die ganze Wahrheit über dieses Gemetzel erfahren?" Eine Antwort darauf erwartet aber keiner mehr.
Quelle: ntv.de