Bundesregierung besorgt Ankara stimmt für Aufhebung der Immunität
20.05.2016, 11:17 Uhr
Das türkische Parlament macht den Weg frei für die Aufhebung der Immunität von einem Viertel der Abgeordneten. Die Entscheidung trifft vor allem Oppositionelle. Die Bundesregierung ist "mit Sorge" erfüllt - und Kanzlerin Merkel will das Thema ansprechen.
Das türkische Parlament hat mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten gestimmt. Für den Vorstoß der islamisch-konservativen AKP stimmten in Ankara 373 der 550 Parlamentarier. Das berichtet das Parlamentsfernsehen.
Zuvor war es im Plenum zu einem Eklat gekommen. Parlamentarier der größten Oppositionspartei CHP verließen während der Debatte am Vormittag unter Protest vorübergehend den Saal, wie der Sender CNN Türk berichtete. "Die Türkei ist laizistisch und wird laizistisch bleiben", riefen sie.
Mit der Abstimmung ist der Weg für eine Verfassungsänderung frei, mit deren Hilfe die Immunität von 138 der 550 Abgeordneten aufgehoben werden kann. Der Schritt trifft vor allem die pro-kurdische Oppositionspartei HDP. 50 ihrer 59 Abgeordneten drohen nun Verfahren. Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft den HDP-Abgeordneten vor, Sprachrohr der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Er hat ausdrücklich dazu aufgerufen, ihre Immunität aufzuheben. Kritiker werfen ihm vor, lediglich politische Gegner ausschalten zu wollen.
Warnungen vor "Selbstentmachtung"
Die HDP befürchtet nun die Festnahme von Abgeordneten ihrer Fraktion, gegen die vor allem Terrorvorwürfe erhoben werden. Parlamentarier anderer Parteien sehen sich Anschuldigungen wie etwa Amtsmissbrauch ausgesetzt. Die 138 Abgeordneten, denen die Immunität entzogen wird, verteilen sich auf alle vier Parteien im Parlament: Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gehören 27 zur islamisch-konservativen AKP (317 Sitze), 51 zur Mitte-Links-Partei CHP (133 Sitze), 50 zur pro-kurdischen HDP (59 Sitze) und neun zur ultrarechten MHP (40 Sitze). Außerdem soll der einzigen parteilosen Abgeordneten die Immunität entzogen werden.
Die Bundesregierung zeigte sich nach der Aufhebung der Immunität besorgt über die zunehmende innenpolitische Polarisierung in dem Land. "Für die innere Stabilität jeder Demokratie ist es wichtig, dass alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen auch parlamentarisch vertreten sind", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.
Bundeskanzlerin Angela Merkel werde das Thema bei ihrem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Montag in Istanbul ansprechen. Bereits am Sonntagabend komme die Kanzlerin dort mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft zusammen. Konkrete Angaben zu Teilnehmern des Treffens machte die Bundesregierung nicht.
"Grundsätzlich erfüllt uns die zunehmende innenpolitische Polarisierung, die zunehmende Polarisierung der innenpolitischen Debatte in der Türkei, mit Sorge", sagte Seibert. Die Bundesregierung messe der Presse- und Meinungsfreiheit eine zentrale Rolle in jeder lebendigen Demokratie bei. "Das gilt nicht nur für die Arbeit der Presse, das gilt für den öffentlichen Ausdruck aller Bürger, die sich am politischen und am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen wollen - und gilt insbesondere auch für deren gewählte Vertreter, die ihr Mandat frei und unabhängig ausüben können müssen".
Quelle: ntv.de, jug/ghö/dpa/rts