Audretsch warnt vor Krisenwinter "Neue Rechte versucht, Volksaufstände anzuzetteln"
19.10.2023, 11:05 Uhr (aktualisiert)
Demonstration von Rechtsextremen gegen die Migrationspolitik 2015. Droht ein neuer Aufschwung der Rechten?
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Die Lebenshaltungskosten steigen, die Sorgen der Menschen wachsen. Ein guter Nährboden für rechte Demokratiefeinde sei das, warnt Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch. Bei ntv.de. erklärt der Bundestagsabgeordnete, wie AfD und andere der Neuen Rechten Putin in die Hände spielen.
ntv.de: Herr Audretsch, Sie haben sich in der Vergangenheit wiederholt mit der Neuen Rechten in Deutschland und Europa beschäftigt. Angesichts sprunghaft steigender Lebenshaltungskosten warnen Sie vor neuem Rückenwind für diese demokratiefeindliche Bewegung. Was droht uns da?

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Der 38-Jährige aus Berlin-Neukölln ist im vergangenen Jahr für die Grünen in den Bundestag eingezogen. Als stellvertretender Fraktionsvorsitzender kümmert sich Audretsch um die Themen Wirtschaft und Finanzen, zudem arbeitet er im Ausschuss Arbeit und Soziales sowie im Haushaltsauschuss. In zwei Büchern - "Schleichend an die Macht" und "Zusammen Wachsen" - hat sich der promovierte Sozialwissenschaftler mit der Neuen Rechten und den gesellschaftlichen Antworten auf diese Bewegung befasst.
Andreas Audretsch: Wladimir Putin versucht, mit zwei Hebeln Deutschland und Europa zu destabilisieren. Ein Hebel sind die Energiepreise, der andere ist Propaganda. In der Kombination kann beides äußerst wirkmächtig werden. Das haben wir in Frankreich gesehen, wo es Rechtsextreme geschafft haben, große Teile der Bevölkerung aufzuwiegeln. Die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich ist an einem bestimmten Punkt sehr weit nach rechts gekippt und hat sich in Teilen Marine Le Pen angeschlossen. Le Pen wiederum pflegt intensive Verbindungen nach Russland, hat sich selber immer wieder in eine Reihe mit Wladimir Putin gestellt. Auch Teile der Gewerkschaften sind in Frankreich ins extremrechte Lager abgedriftet. Im Vergleich dazu ist Deutschland nach wie vor ein sehr stabiles Land.
Aber?
Die Gefahr ist auch in Deutschland sehr real. Wladimir Putin verachtet unsere liberale Demokratie, Pressefreiheit, Menschenrechte, Schutz von Minderheiten. All das soll diskreditiert werden. Und das tut er im Schulterschluss mit der Neuen Rechten.
Weil es ebenso wie zwischen Le Pen in Frankreich oder Salvini in Italien auch Beziehungen der AfD nach Moskau gibt?
Das sind Verbindungen der Neuen Rechten insgesamt, darunter auch die AfD. Die Verbindungen nach Moskau werden in verschiedenen Zusammenhängen gepflegt, zum Beispiel über ein christliches, erzkonservatives Milieu. Da ist die AfD-Politikerin Beatrix von Storch, die mit ihrer ganzen Familie im Hintergrund, über Familienbande und Adels-Verbindungen, Kontakte nach Russland pflegt, etwa zum russischen Oligarchen Konstantin Malofejew, der Proteste wie die sogenannte "Demo für alle" in Europa organisiert und finanziert. In der Familie von Beatrix von Storch werden Organisationen geführt wie der Verein "Gesellschaft zum Schutz von Tradition, Familie und Privateigentum", der zu einem großen Netzwerk ultra-katholischer Akteure gehört, die ebenfalls enge Verbindungen zu den Organisatoren der "Demo für alle" unterhalten - genau wie etwa auch der russische fundamentalistisch-orthodoxe Aktivist Aleksey Komow. Die Bande sind vielfältig und weit vernetzt.
Haben Sie noch andere Beispiele?
Eine zweite Schiene verläuft über eine Reihe von Russlanddeutschen und Russlandfreunden in der AfD, etwa um den Berliner Abgeordneten Gunnar Lindemann, der mehrfach auf die Krim und in die von Russland besetzten Gebiete im Osten der Ukraine gereist ist, dort Kontakte unterhält und in Deutschland eins zu eins die russische Propaganda verbreitet. Ein anderes Beispiel - außerhalb der AfD, aber ebenso Teil der Neuen Rechten - ist das "Compact"-Magazin von Jürgen Elsässer, das russische Propaganda über Telegram-Kanäle mit Zehntausenden Abonnenten verbreitet. Einige Videos sollen vermitteln, man müsse Putin nur verstehen, um seine Positionen gut zu finden und zu übernehmen, während andere Angst vor einem kalten Winter und dem Verlust von Arbeitsplätzen schüren. Da kommen dann beide Hebel - Preise und Propaganda - wieder zusammen.
Tatsächlich zeigt sich die AfD über den Umgang mit Russland weiterhin tief gespalten. Ist die Neue Rechte da wirklich so einheitlich unterwegs?
Nein, das wird in der europäischen Gesamtschau deutlich: Während sich in Italien die Lega sehr stark in Richtung Russland orientiert, bleibt Giorgia Meloni, die Spitzenkandidatin der rechtsextremen Fratelli d'Italia, eher auf Distanz zu Moskau und orientiert sich stärker an Donald Trump und Steve Bannon in den USA. Marine Le Pen hat Moskau sehr lange die Stange gehalten, sich als starke Führerin in einer Reihe mit Trump, Putin und dem indischen Präsidenten Narenda Modi inszeniert. Im Wahlkampf hatte sie zuletzt versucht, etwas Distanz zu Putin zu kriegen. In Polen wiederum ist die rechtspopulistische Regierung der PiS traditionell auf Distanz zu Russland, pflegt aber Verbindungen zur Neuen Rechten in Europa.
Und die AfD?
Es gibt da einige, die keine so enge Verbindung nach Russland wollen. Aber es gibt auch sehr starke Kräfte, die sich sehr bewusst mit Russland solidarisieren. Dass Parteichef Tino Chrupalla im Dezember 2020 vom russischen Außenminister Sergej Lawrow in Moskau empfangen worden ist, ist sehr eindeutig. Und Alexander Dugin, der rechtsextreme Vordenker des russischen Angriffskrieges, dessen Tochter jüngst bei einem Anschlag getötet wurde, hat sich 2015 mit dem AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland getroffen. Diese Allianzen sind nicht zu leugnen. Und Einigkeit ist dahingehend zu erwarten, dass die Neue Rechte versuchen wird, die Situation in Deutschland auszunutzen, die Menschen im Winter aufzuwiegeln und Stimmung zu machen gegen unser liberales, demokratisches System.
Die Zustimmungswerte zur AfD stagnieren aber weiterhin. Sehen Sie dennoch Anzeichen, dass die Sanktionsgegner Aufwind bekommen und die von Annalena Baerbock angesprochenen Volksaufstände drohen?
Wir können sicher sagen, dass die Neue Rechte versucht, Volksaufstände anzuzetteln. Das zu ignorieren, wäre naiv und ein großer Fehler. Wie erfolgreich sie sein werden, das haben auch wir politisch Verantwortlichen in der Hand. Erstens müssen wir dafür sorgen, dass Menschen im Winter nicht ins bodenlose fallen. Zweitens dürfen die Menschen nicht das Gefühl bekommen, dass sie zurückstecken müssen, während sich andere die Taschen voll machen. Mit einer Krisenpolitik, die vor allem auf Gerechtigkeit setzt, sichern wir nicht nur den sozialen Frieden, wir sichern zugleich auch unsere liberale Demokratie. Die allermeisten sind bereit, ihren Teil beizutragen, wenn auch die mit viel Geld, die die viel haben, ihren Beitrag leisten. Wenn aber das Gefühl einer gemeinsamen Kraftanstrengung verloren geht, laufen wir Gefahr, dass sich Menschen von unserem demokratischen System abwenden.
In der Frage der Umverteilung haben Sie zusammen mit der SPD ihren kleinen Koalitionspartner FDP gegen sich. Inwieweit stimmen FDP und Grüne überhaupt in ihrer Sorge um die Demokratie überein?
Die FDP ist ein Partner, der für eine liberale Demokratie einsteht. Das steht nicht in Zweifel, da herrscht ganz viel Übereinstimmung mit uns Grünen. Dissens haben wir in der Frage, wie viel Verteilungsgerechtigkeit es braucht, um diese Demokratie abzusichern. Ich bin der Meinung, dass der soziale Frieden eine zentrale Voraussetzung dafür ist und die Bundespolitik die Aufgabe hat, für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen. Die Menschen müssen ihre Rechnungen bezahlen können. Schon allein die Angst davor, abzurutschen, ist ein Problem. Wenn die Menschen nicht mehr das Gefühl haben, ihren Kindern wird es einmal besser gehen, sondern Abstiegsangst zum dominierenden Gefühl wird, zerstört das eine Gesellschaft von innen.
Von Umverteilung über neue Steuern für Wohlhabende oder zumindest Einmalzahlungen bis hin zu einer Reform der Schuldenbremse sagt die FDP aber zu allen rot-grünen Vorschlägen Nein. Wird sich das im Herbst noch ändern?
Das kommende dritte Entlastungspaket muss soziale Fragen ganz klar adressieren. Der Vorschlag von Bundesfinanzminister Christian Lindner ist der aktuellen Lage nicht angemessen. Wer 20.000 Euro zu versteuerndes Einkommen hat, würde um 115 Euro entlastet. Menschen mit 200.000 Euro würden 479 Euro weniger abführen. Nichts gegen die Bekämpfung der Kalten Progression, aber wenn gerade der Finanzminister betont, wir seien knapp bei Kasse, ist das die falsche Priorität. Deshalb plädieren wir für Direktzahlungen an Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen. Das heißt: Kindergeld erhöhen, den Satz der Grundsicherung für Arbeitslose und Alte anheben, Wohngeld und Energiepreispauschalen. Das muss eine Höhe haben, die den Herausforderungen im Winter angemessen ist. Wie man das finanziert, da gibt es ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Wir Grüne halten die Übergewinnsteuer für ein gutes Instrument. Sie generiert Mittel, die wir jetzt brauchen, und würde den Menschen zeigen, dass Politik willens und fähig ist, Ungerechtigkeiten zu korrigieren.
Selbst wenn sich die Ampelkoalition auf umfassende Hilfen und Umverteilung verständigen kann, werden die Menschen in der Breite absehbar einen Wohlstandsverlust zu spüren bekommen. Wer aber sagt "Ich will das nicht hinnehmen, was geht mich der Krieg in der Ukraine an?", muss sich schnell vorwerfen lassen, unsolidarisch oder gar Putin-Sympathisant zu sein. Wie können Gegner der westlichen Russland-Politik einbezogen werden, wenn sie doch nach Meinung aller Entscheider falsch liegen?
Diese Diskussionen werden wir immer wieder führen müssen. Man muss sich diese Positionen anhören, aber auch deutlich machen, was die Sachlage ist. Erstens braucht es dabei Klarheit, von wem die Aggression ausgegangen ist: von einem faschistischen Diktator namens Wladimir Putin. Zweitens wollen selbstverständlich alle eine Friedenslösung, die am Ende nur diplomatisch erreicht werden kann. Dafür braucht man aber einen Verhandlungspartner, der zu echten Gesprächen bereit ist und der nicht einen Diktatfrieden einfordert. Wer da Zweifel hat, muss sie äußern können, aber auch mit den Reaktionen darauf umgehen.
Gerade in den östlichen Bundesländern ist diese Ablehnung sehr groß, obwohl Politik und Medien seit mehr als sechs Monaten versuchen, die Situation zu erklären. Die Politik stößt dabei offensichtlich an Grenzen, während es nicht Aufgabe von Nachrichtenmedien ist, die Menschen jeden Tag aufs Neue zu belehren. Wer soll da vermittelnd auftreten?
Ich würde das nicht auf den Osten reduzieren. Noch weniger als in früheren Jahrzehnten stehen sich heute bestimmte große Gruppierungen blockartig gegenüber, nicht Ost gegen West, nicht etwa Kirchen gegen Frauenverbände oder Gewerkschaften gegen Umweltverbände. Wir finden inzwischen in allen Teilen der Gesellschaft Kräfte, die gemeinsam für die liberale Demokratie streiten wollen. In diesen verschiedenen Gruppierungen muss das Bewusstsein entstehen, dass wir liberale Demokraten und Progressive überall sind und dass wir auch überall sein müssen, um uns den Diskussionen zu stellen. Wir müssen zu großen Allianzen über gesellschaftliche Gruppierungen hinweg zusammen wachsen. Dann kann eine Vermittlung gelingen, die dem Generalangriff Putins in der ganzen Breite der Gesellschaft etwas entgegensetzt.
Mit Andreas Audretsch sprach Sebastian Huld
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 30. August 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de